Ötzi und die Mikrowelt

Vor 20 Jahren entdeckten Wanderer die Gletschermumie Ötzi. Seitdem beschäftigen sich verschiedenste Forschungsdisziplinen mit dem Menschen aus der Kupferzeit. Federführend mit dabei: ForscherInnen der Universität Wien. Der Anthropologe Horst Seidler, seit 2008 Dekan der Fakultät für Lebenswissenschaften, war einer der wenigen WissenschafterInnen weltweit, die bereits kurze Zeit nach dem Fund der Mumie an der Aufklärung der Lebens- und Sterbeumstände des Eismanns beteiligt waren. Aktuell untersucht der Bioinformatiker Thomas Rattei, welche Bakterien den 5.300 Jahre alten Ötzi zu Lebzeiten begleitet haben und wie sich deren Erbgut seither verändert hat.

Thomas Rattei, der dem Beispiel des engagierten Ötzi-Experten Seidler folgt, ist seit März 2010 Professor am Department für Computational Systems Biology. Ging es zunächst um grundlegende archäologische und anthropologische Fragestellungen, erlauben neue Technologien und Methoden seit einigen Jahren einen Blick in die "Mikrowelt" des Eismanns: "Aus Beckenknochenproben, die Ötzi entnommen wurden, um sein Genom zu entziffern, konnten auch Daten über das Erbgut von Bakterien gewonnen werden. Diese erforschen wir nun hier am Department in Abstimmung mit den KollegInnen vom Bozner Institute for Mummies and the Iceman des EURAC, an dessen Gründung Horst Seidler aktiv beteiligt war", erklärt der Bioinformatiker.

Krankheitserreger aus der Kupfersteinzeit

In einem ersten Schritt untersucht das vierköpfige Team um Rattei, welche dieser Bakterien tatsächlich aus dem Organismus von Ötzi stammen, also über fünf Jahrtausende alt sind, und welche den toten Körper erst später besiedelt haben: "Die Methode zur Altersbestimmung haben wir erstmalig für Mikroorganismen eingesetzt. Nun geht es darum, die alten Bakterien zu identifizieren. Möglicherweise sind auch Krankheitserreger darunter. Das Spannende daran ist, dass wir dadurch eine Brücke zur Gegenwart schlagen: Was hat sich im Zeitraum von 5.000 Jahren im Erbgut bestimmter Bakterien getan? Wie hat sich ein Krankheitserreger damals, als die Bevölkerungszahlen und die hygienischen Bedingungen völlig andere waren als heute, an den Menschen angepasst?" Interessant sind aber nicht nur die Krankheitserreger, sondern auch die "guten" Bakterien – also die Gesamtheit der Mikroorganismen, ohne die ein Mensch nicht lebensfähig wäre: "Wir brauchen sie im Darm, auf den Schleimhäuten, auf der Haut", so Rattei.

Probe aus dem Magen

Weitere Erkenntnisse erhoffen sich die BioinformatikerInnen aus der Analyse von bakteriellen Genomsequenzen aus Ötzis Magen: enorme Datenmengen, die von Biotechnologie-Unternehmen erstellt, auf Festplatten gespeichert und demnächst an die Uni Wien geliefert werden. Mit Spannung erwartet werden die Daten unter anderem auch deshalb, da Proben aus dem Körper von Ötzi nicht beliebig verfügbar sind: Probennahmen und Untersuchungen, für die die Mumie aus der Klimakammer genommen werden muss, finden nur in relativ großen Zeitabständen statt. Erst bei der letzten Probennahme im vergangenen Herbst begannen WissenschafterInnen den Magen sowie dessen Inhalt zu untersuchen. Darin werden nun auch besondere, an die Bedingungen des Magens gut angepasste, Mikroorganismen vermutet.

Bioinformatik

"Am Department verfügen wir über die nötige Computerinfrastruktur und die geeigneten Methoden, um Sequenzen selbst stark zerfallener DNA noch analysieren zu können. Wir hoffen, dass wir durch das bessere Verständnis der kupferzeitlichen Mikrowelt die Anpassung der Krankheitserreger an den Menschen verstehen und damit letztlich auch zum Fortschritt der heutigen Bakteriologie beitragen können", schließt Rattei. (dh)

Univ.-Prof. Mag. Dr. Thomas Rattei hat seit März 2010 die Professur "In Silico Genomics" inne und ist Leiter des Departments für Computational Systems Biology an der Fakultät für Lebenswissenschaften. O. Univ.-Prof. Dr. Horst Seidler, Vorstand des Departments für Anthropologie ist seit 2008 Dekan der Fakultät für Lebenswissenschaften.


Dieser Artikel erscheint als Gastbeitrag von "uni:view" auch im aktuellen "univie", dem Magazin des Alumniverbandes.