Publikation: Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus

Am Donnerstag, 21. Oktober 2010, wird der kürzlich erschienene Sammelband "Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien" präsentiert: Ziel der Publikation ist es, Verflechtungen der Geisteswissenschaften in das NS-Herrschaftssystem zu beleuchten und zu interpretieren. Der Band leistet erstmals eine Zusammenführung der bisherigen Forschung zum Thema. "DieUniversität-online" sprach mit den drei Herausgebern Mitchell Ash, Wolfram Nieß und Ramon Pils.

Redaktion: Sie haben soeben den umfangreichen Sammelband "Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien" veröffentlicht. Was ist das Besondere an dieser Publikation?
Mitchell Ash: In diesem Band wird zum ersten Mal der Stand der Forschung auf diesem Gebiet umfassend zusammengetragen. Es hat zwar vor mehr als 20 Jahren eine Publikation - Willfährige Wissenschaft (1989; Hg. Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Edith Saurer, Karl Stuhlpfarrer, Anm.) - zum Thema Universität Wien im Nationalsozialismus gegeben; in dieser umfassenden Form bzw. konkret über die Geisteswissenschaften ist das aber etwas Neues. Ein zweiter Punkt ist die Zusammensetzung der Herausgeber- und AutorInnenschaft. Es sind vier ForscherInnengenerationen als AutorInnen vertreten: Neben "frischen" Magistrae und Magistri sind es DoktorandInnen, Post-Docs und "Veteranen", die zum Teil über das Pensionsalter hinaus immer noch in diesem Forschungsfeld aktiv sind. Die Mitherausgeber Wolfram Nieß und Ramon Pils haben ihre Diplomarbeiten zum Themenbereich verfasst. Diese Kooperation über die Generationen hinweg und insbesondere die Zusammenarbeit des Herausgeberteams hat sehr gut funktioniert. Zu erwähnen ist auch, dass die Publikation vom Rektorat, den Dekanaten der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, sowie der HochschülerInnenschaft der Universität Wien gefördert wurde. Die Notwendigkeit, sich vertieft und gerade mit diesem Teil der Geschichte der Universität Wien auseinanderzusetzen, wird damit allseits anerkannt.

Redaktion: Warum lagen zwischen der ersten Publikation zum Thema und dem nun vorliegenden Band über 20 Jahre?
Ramon Pils: Ein Faktor wird sein, dass jetzt eine jüngere Lehrendengeneration bereit ist, solche Themen auch zu betreuen. Ich komme beispielsweise von der Anglistik - hier eine fachhistorische Arbeit zu schreiben wäre wahrscheinlich vor ein paar Jahren noch nicht möglich gewesen.
Wolfram Nieß: Nicht nur in meinem Fall spielt die Archivgesetzgebung eine wichtige Rolle: Meine Diplomarbeit zur Gründung des Instituts für Theaterwissenschaft und der Berufung Heinz Kindermanns basiert auf Akten, die noch nicht allzu lange Zeit zugänglich sind. Ein weiterer Grund mögen auch diverse (bisweilen durchaus vorauseilende) "Rücksichtnahmen" gegenüber den "wissenschaftlichen Enkeln" Kindermanns sein, die bis vor wenigen Jahren am Institut für Theaterwissenschaft in führender Position aktiv waren. Das wird auch an anderen Instituten eine Rolle gespielt haben.

Redaktion: In der Publikation werden mehrere Teilaspekte abgehandelt. Einer davon ist das Themengebiet "Personelle Kontinuitäten und Diskontinuitäten". Zu welchen Veränderungen kam es im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten?
Ash: Zuerst sollten wir uns - dem mit Vorsicht zu genießenden - Begriff "Kontinuität" widmen: In vielen Fällen ist es so, dass WissenschafterInnen über 1945 hinaus an der Universität blieben bzw. schon geraume Zeit vor 1938 hier waren. Im letzteren Fall könnte man die These in den Raum stellen, dass die Inhalte erst gar nicht "nazifiziert" werden mussten, weil diese Personen ohnehin deutschnational ausgerichtet waren. Es gab aber durchaus Fälle, wo Anhänger des Vorgängerregimes aus dem Weg geräumt wurden. Also nicht nur Menschen, die im Sinne der Nazis als Juden galten, sondern auch Anhänger des Vorgängerregimes zählten 1938 zu den Entlassenen. Viele von ihnen waren Geisteswissenschafter. Insgesamt hat die Philosophische Fakultät rund ein Drittel ihrer Lehrenden durch Vertreibung verloren.
Pils: Im Vergleich zu Deutschland ist besonders, dass 1938 kaum Sozialdemokraten oder Kommunisten von der Universität zu "entfernen" waren, da diese bereits durch das Vorgängerregime vertrieben worden waren. Erwähnt werden sollte weiters, dass diese Situation auch dazu genutzt wurde, um unliebsame Konkurrenten loszuwerden: Sie wurden ganz einfach als Regimegegner denunziert und in der Folge von der Universität vertrieben.
Nieß: Mit dieser Thematik in Zusammenhang stehen natürlich auch Berufungen zugunsten einer NS-orientierten Wissenschaft wie z.B. im Fall des Zeitungswissenschaftlers Karl Kurth. Im Band gibt es dazu mehrere exemplarische Beispiele. Grundsätzlich ist zu diesem Thema noch sehr viel aufzuarbeiten. Es sollte aber erwähnt werden, dass bei Berufungen doch stets auch Wert auf die wissenschaftliche Qualifikation der - möglicherweise von "außen" genannten Kandidaten - gelegt wurde. Hier spielen dann wiederum die Handlungsspielräume eine Rolle, die die Universität gegenüber staatlichen Stellen hatte. Auch zu diesem Teilaspekt werden in der Publikation Forschungsergebnisse präsentiert.

Redaktion: Im Band wird aufgezeigt, dass auch die Geisteswissenschaften im Sinne der Kriegsführung instrumentalisiert wurden. Könnten Sie hier ein Beispiel nennen?
Ash: Es gibt die Tendenz zu behaupten, dass Geisteswissenschaften anfällig für Ideologisierungen und daher auch "leicht zu nazifieren" gewesen seien. Das ist nicht falsch, aber es ist eben nur die halbe Geschichte: Es kam nämlich darüber hinaus zu einer Selbstmobilisierung wissenschaftlicher Arbeit für politische Projekte, die ganz im Sinne der klassischen wissenschaftlichen Politikberatung verstanden werden kann und sich nicht an einer Ideologisierung erschöpft. Ein Beispiel dafür ist die "Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft", die viele Professoren als Mitglieder hatte. Der Zweck war hier, bei der Eroberung und der bevölkerungspolitischen "Neuordnung" des südöstlichen Europas behilflich zu sein.

Redaktion: Könnten Sie noch kurz über das Programm der bevorstehenden Buchpräsentation berichten?
Ash: Im Rahmen der Veranstaltung werden Vizerektorin Christa Schnabl, der ehemalige Dekan der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät Franz Römer, Karl Vocelka für die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, eine VertreterIn der HochschülerInnenschaft sowie Susanne Franzkeit vom Verlag V&R Unipress Grußworte sprechen. Es folgt dann ein Vortrag des renommierten Wissenschafters Frank-Rutger Hausmann von der Universität Freiburg zum Thema "Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus als Forschungsaufgabe". Im Anschluss werden wir drei Herausgeber mit den AutorInnen Irene Leitner, Doris Ingrisch und Otto Urban am Podium ins Gespräch treten. (dh)

O. Univ.-Prof. Dr. Mitchell Ash forscht und lehrt am Institut für Geschichte. Mag. Wolfram Nieß ist am Institut für Zeitgeschichte und MMag. Ramon Pils am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte beschäftigt.

Buchpräsentation "Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus"
Das Beispiel der Universität Wien
21. Oktober 2010, 18 bis 20 Uhr
Campus der Universität Wien, Aula im Hof 1
Spitalgasse 2-4, 1090 Wien
Programm (PDF)

Buchtipp:
Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hg.): Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Am Beispiel der Universität Wien. Vienna University Press bei V&R unipress. 2010 (Mit Vorworten von Rektor Georg Winckler, Altdekan der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät Franz Römer, dem Dekan der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät Michael Viktor Schwarz sowie der ÖH Universität Wien).