Verena Dirsch: "Naturstoffe bereichern unseren Arzneimittelschatz"

Weidenrinde

Die Pharmazeutin Verena Dirsch erforscht die Wirkmechanismen von Naturstoffen. Warum die Stoffe aus der Natur die Forschung immer wieder vor große Herausforderungen stellen und sie gleichzeitig ein sehr spannendes Forschungsthema sind, erklärt die Wissenschafterin im Interview.

uni:view: Wie würden Sie als Pharmazeutin Menschen einfach "Wirkstoffe" erklären?
Verena Dirsch: Aus pharmazeutischer Sicht sind Wirkstoffe im Prinzip Stoffe, die zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten, oder auch zu diagnostischen Zwecken eingesetzt werden. Interessanterweise wird im österreichischen Arzneimittelgesetz, das es seit 1983 gibt und das der Arzneimittelsicherheit dient, der Begriff "Stoff" so definiert, dass er neben natürlichen oder synthetisch chemischen Stoffen unter anderem auch Pflanzen, Mikroorganismen, oder Körperbestanteile beinhaltet. Damit zählen rein rechtlich auch sehr komplexe Gemische zu Arznei- bzw. Wirkstoffen. So ganz einfach ist es also gar nicht, den Begriff Wirkstoff zu erklären, und das verwirrt sicher auch den ein oder anderen Erstsemester-Studierenden.

uni:view: Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte lautet "Wirkmechanismen von Naturstoffen". Können Sie das kurz erläutern?
Dirsch: Stoffe, die die Natur hervorbringt, haben ja in der Regel einen biologischen Zweck. Das heißt, man kann davon ausgehen, dass viele sogenannte Sekundärmetabolite aus Pflanzen oder Mikroorganismen eine biologische Funktion ausüben. Daher sind Naturstoffe als Quelle für die Suche potenzieller Wirkstoffe sehr interessant. Wenn man zudem versucht, herauszufinden, wie sie auf molekularer Ebene agieren, kann man möglicherweise neue zelluläre Angriffspunkte, sogenannte Targets, für Wirkstoffe finden, was für die Arzneistoffentwicklung eine wichtige Thematik ist.

uni:view: Was kennzeichnet bzw. unterscheidet Naturstoffe von anderen Wirkstoffen?
Dirsch: Naturstoffe haben aufgrund ihrer biologischen Wirksamkeit wesentlich zu unserem Arzneimittelschatz beigetragen. Oft werden sie nicht als "Original" eingesetzt, sondern sind chemisch modifiziert. Die Acetylierung von Salicylsäure aus der Weidenrinde zu Acetylsalicylsäure (Aspirin®) hat zum Beispiel zu einer besseren Verträglichkeit geführt. Während die Salicylsäure ein eher einfaches Molekül ist, haben viele Naturstoffe die Forschung immer wieder vor große Herausforderungen gestellt, da sie z.B. chemisch sehr komplex sind oder auch aus Quellen stammen, die oft nicht so einfach zugänglich sind. 

Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2020/21 lautet: "Welche Wirkstoffe haben Zukunft?" Zur Semesterfrage 

Eine kostengünstige und nachhaltige Produktion kann dabei zu einer Herausforderung werden. Im Idealfall kann man den Organismus, der den Wirkstoff produziert in Fermentern (großen Tanks) kultivieren, den Wirkstoff also über biotechnologische Verfahren herstellen. Wenn die Quelle Mikroorganismen sind, ist das vergleichsweise einfach. Bei Pflanzen ist das schwieriger. Man hat es jedoch beispielsweise geschafft, ein wichtiges Krebstherapeutikums (Taxol®) von Pflanzenzellen, die in Fermentern kultiviert werden, herzustellen. Damit konnte die pazifische Eibe, aus deren Rinde der Wirkstoff ursprünglich gewonnen wurde, vor dem Abholzen geschützt werden. In Summe liefern Naturstoffe damit sehr lohnende aber auch herausfordernde Forschungsthemen.

uni:view: Und zum Abschluss auch an Sie unsere Semesterfrage "Welche Wirkstoffe haben Zukunft?"
Dirsch: Wenn man sich Jahr für Jahr die Statistiken ansieht, welche Art von Wirkstoffen zugelassen werden, haben derzeit die sogenannten Biopharmazeutika die Nase vorn. Inzwischen nehmen sie mehr als die Hälfte der Neuzulassungen ein. Eine wichtige Gruppe hier sind gentechnisch hergestellte Antikörper. Mit Antikörpern kann man ganz bestimmte Zellen gezielt angreifen.

Dies eröffnet auch die Chance Naturstoffe, die normalerweise zu toxisch für den gesamten Organismus wären, gezielt zu Krebszellen zu leiten, in dem man sie an Antikörper koppelt. Die Antikörper bringen sie zielgenau zu den Tumorzellen, von denen sie aufgenommen werden. Damit werden die Krebszellen getötet, der Restorganismus aber bleibt verschont. Ein interessantes Beispiel ist die Kopplung eines Stoffes an einen Antikörper, der sich von dem Naturstoff Dolastin ableitet. Dieser Stoff stammt aus der Meeresschnecke Dolabella auricularia (auch Seehase genannt) und ist extrem toxisch. Interessanterweise findet man oft sehr stark toxische Naturstoffe in Meeresorganismen, da diese, vor allem wenn sie immobil sind, oft keine andere Möglichkeit haben, sich zu verteidigen. Im Wasser wird jede ausgeschiedene Substanz sofort verdünnt, sodass diese Stoffe sehr potent sein müssen. Die Kopplung an den Antikörper macht es nun möglich, diesen Stoff bei bestimmten Krebserkrankungen einzusetzen, da er nur in den Zellen wirkt, an denen dieser Antikörper bindet. 

uni:view: Vielen Dank für das Interview! (td)

Verena Dirsch hat an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München Pharmazie studiert, wo sie 1993 promoviert hat und 2002 habilitiert wurde. Seit Oktober 2004 ist sie Professorin für Pharmakognosie an der Fakultät für Lebenswissenschaften der Universität Wien. Seit 2006 leitet sie das Department für Pharmakognosie. Von 2008-2014 war sie Vize-Dekanin der Fakultät für Lebenswissenschaften. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt bei den Wirkmechanismen von Naturstoffen. (© Daniel Messner)