Wie Fadenwürmer denken
| 21. Januar 2019"Mit dem Biozentrums St. Marx wird sich ein einzigartiger Lifescience Hub mit internationaler Sichtbarkeit entwickeln", ist der Neurobiologe Manuel Zimmer überzeugt. Im Interview spricht er über sein Forschungsgebiet: Die "Gedanken" der Fadenwürmer.
Wie würden Sie grundlegende Fragestellungen in den Neurowissenschaften bzw. in Ihrer Arbeit skizzieren?
Manuel Zimmer: Nervensystem und Gehirn sind in ihrer Architektur und ihrer Struktur höchst komplex, was noch immer eine große Herausforderung für die Wissenschaft darstellt. Wir ziehen mit dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans (C. elegans) bewusst ein Tier mit einem relativ kleinen Nervensystem als Modellorganismus heran.
Fadenwürmer sind sehr stereotyp aufgebaut und haben nur 302 Nervenzellen, wovon jede eine spezifische Identität aufweist (Eutelie). Zudem finden sich in jedem Individuum dieselben Nervenzellen an der gleichen Position. Dadurch können Muster reproduzierbar studiert und allgemeine Rückschlüsse für komplexere Nervensysteme gezogen werden. Wie nehmen Nervensysteme Information auf? Wie werden Sinnesreize wahrgenommen, verarbeitet und in Verhaltensweisen umgesetzt? Diese grundlegenden Fragen untersuchen wir anhand des Fadenwurms.
Was ist unter der "Informationsverarbeitung" eines Wurmes zu verstehen?
Zimmer: Ein Wurm kann riechen, schmecken, fühlen sowie hell und dunkel voneinander unterscheiden. In der Wahrnehmung unterschiedlicher Düfte ist er sogar ein Spezialist. So kann er – im Gegensatz zum Menschen – Sauerstoff und Kohlendioxid riechen. Ebenso kann C. elegans Chemikalien differenzieren und sein Tastsinn ist sehr ausgeprägt. Um die sensorischen Nervenzellen des Fadenwurms zu stimulieren, arbeiten wir in unserer Forschungspraxis mit Sauerstoff, Kohlendioxid und organischen Duftstoffen.
Die Arbeitsgruppe von Manuel Zimmer ist multidisziplinär zusammengesetzt, v.l.n.r.: Ulises Rey, Luka Železnik, Richard Latham, Kerem Uzel, Julia Riedl, Harris Kaplan, Niklas Khoss, Oriana Salazar, Annika Nichols, Manuel Zimmer, Lukas Hille, Mara Andrione, Charles Fieseler, Anton Parinov und Daniel Correira. (© Department für Neurobiologie/Universität Wien)
Ist es möglich, die Gedanken des Wurmes zu "lesen"?
Zimmer: Bereits vor rund 30 Jahren wurde das Nervensystem von C. elegans mit Hilfe der Elektronenmikroskopie "kartiert". Es ist zwar sehr klein, aber durchaus komplex – d.h. die Nervenzellen sind kompliziert miteinander verknüpft. Obwohl sehr nützlich, ist diese Netzwerkkarte ein statisches Gebilde. Bisher konnte man die Netzwerkdynamik nicht auf unterschiedlichen Ebenen untersuchen.
Dafür haben wir nun eine spezielle Methode entwickelt: Wir färben einzelne Nervenzellen mit einem Kalzium-abhängigen Farbstoff (ein modifiziertes green fluorescent protein). Mit unserem Mikroskop, das wir in Bezug auf Schnelligkeit und Sensitivität für diese Anforderungen adaptiert haben, scannen wir nun ein ganzes Nervensystem auf seine neuronale Aktivität durch. Und mit Hilfe selbst entwickelter Computerprogramme werten wir die großen Datenmengen schließlich aus.
Wird der Kopf des Wurmes in einen Kanal eingeklemmt, kann sein Gehirn bzw. seine neuronalen Aktivitäten in Echtzeit unter dem Mikroskop untersucht werden. Das ist uns erstmals 2013 geglückt. Neben dem Fadenwurm können übrigens nur bei Zebrafischlarven neuronale Aktivitäten über das ganze Gehirn hinweg in Echtzeit untersucht werden. Wir fanden heraus, dass sich die meisten aktiven Neuronen im wachen Gehirn koordinieren, um kollektive globale Aktivitätsmuster zu bilden – auch wenn keinerlei Sinnesreize vorhanden sind.
1960 etablierte der Nobelpreisträger Sydney Brenner den Fadenwurm C. elegans als Modellorganismus und studierte dessen Organentwicklung und Nervensystementwicklung. Die einfache Handhabung der Tiere auf Agarplatten, Bakterien als Nahrung (E. coli-Stämme: OP50 und HB101), und seine entwicklungsbiologischen Eigenschaften (unter anderem Eutelie, einfache Strukturbildung, Durchsichtigkeit) haben seinen Siegeszug im Labor begünstigt. Die Gruppe rund um Manuel Zimmer arbeitet mit dem Laborstamm des C. elegans.
Gehirnzustände mit charakteristischem neuronalen Aktivitätsmuster werden zyklisch wiederholt. Die Neuronen zeigen Muster, die nicht zufällig strukturiert sind. Nervenzellenverbände koordinieren und organisieren sich hoch komplex und kommunizieren miteinander. Die einzige Ausnahme dieser dynamischen Zustände ist, wenn der Wurm in den Schlaf fällt. Ein großer Teil des Nervensystems wird dabei inaktiv – einzig die sogenannten Schlafneuronen bleiben aktiv. Am C. elegans erforschen wir auch die Funktion des Schlafes. Mit verschiedenen Rechenverfahren visualisieren und quantifizieren wir diese Prozesse – wir "lesen" also tatsächlich die Gedanken des Wurms.
Können Sie aus den neuronalen Mustern Vorhersagen über das Verhalten des Wurms ableiten?
Zimmer: Ja, durch weitergehende Experimente haben wir diese Aktivitätsmuster gründlich charakterisiert. Wir wissen, was der Wurm im nächsten Moment vorhat, z.B. in welche Richtung er kriechen will. Wir entwickeln unsere Methoden dahingehend weiter, dass wir nicht nur die Aktivitäten in der Gehirnregion des C. elegans analysieren, sondern sein gesamtes neuronales Nervensystem – so sitzt beispielsweise eine Art "Minigehirn" in der Schwanzspitze. Außerdem wollen wir ihn unter möglichst natürlichen Bedingungen studieren. Das bedeutet, ihn nicht in einen Kanal einzuklemmen, sondern ihm in einer seiner Lebensumwelt ähnlichen Arena zu beobachten.
Unsere Haupthypothese ist, dass ein Tier so konzipiert ist, dass es eigenständige, Neugier getriebene Entscheidungen trifft, z.B. wenn es um Stimulantien wie Futter geht. Hier kommen Aspekte der Verhaltensforschung bzw. der quantitativen Verhaltensanalyse zum Tragen. Für die Messung verwenden wir bildverarbeitende Methoden, die Verhaltensmuster abbilden und ebenfalls wieder mathematisch und statistisch analysiert bzw. ausgewertet werden.
Was sind Ihre nächsten Ziele?
Zimmer: Unser Team ist multidisziplinär. Wir kombinieren avancierte Mikroskopietechniken für die Bildgebung des gesamten Gehirns und Nervensystems mit quantitativem Verhalten, molekularer Genetik und Computational Neuroscience. Unser Ziel ist, die Dynamik des Gehirns zu erforschen, die für die Funktion des Nervensystems entscheidend ist. Wir wollen den Informationsfluss von den sensorischen Eingaben über die Entscheidungsfindung bis hin zur Verhaltensausgabe verstehen – und herausfinden, warum ein solches System einen Schlaf-Wach-Zyklus erfordert.
In einer realistischen Simulation werden diese Erkenntnisse der Gehirndynamik und des Verhaltens rezeptiert. Unser ganzheitlicher Ansatz ist zurzeit nur in diesem kleinen Tier möglich. Aber dadurch können wir die Funktionsprinzipien des Nervensystems verstehen, von denen wir annehmen, dass sie für größere Tiere verallgemeinerbar sind.
Vielen Dank für das Interview!
Manuel Zimmer ist seit Oktober 2018 Professor für Neurobiologie am Department für Neurobiologie der Fakultät für Lebenswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Model organism Caenorhabditis elegans, Quantitative ethology, Neuronal circuit dynamics, Computational neuroscience, Neurogenetics. Bis zur Fertigstellung des Biozentrums St. Marx, wo die gesamte Fakultät für Lebenswissenschaften untergebracht sein wird, sind er und seine Gruppe räumlich noch im IMP angesiedelt.