"Universität ist frei und unbequem"

Ebrahim Afsah war schon überall: Der Völkerrechtler hat Staatsstrukturen in Afghanistan mit aufgebaut, in Nordafrika, Harvard und Singapur geforscht, in Kopenhagen gelehrt. An der Uni Wien vermittelt der Professor für Rechtswesen und Ethik im Islam, wie schön und komplex kritische Wissenschaft ist.

uni:view: Herr Afsah, Sie sind Völkerrechtler und seit September 2018 Professor für Recht und Ethik im Islam an der Universität Wien. Was interessiert Sie in Ihrer Forschung?
Ebrahim Afsah:
Ich untersuche Staatsstrukturen in islamisch geprägten Ländern, die nicht oder nicht mehr funktionieren. In Europa leben wir ja in Industriestaaten mit einer Verwaltung, die relativ gut arbeitet. Aber europäische Modelle lassen sich nicht umstandslos auf Länder wie Afghanistan übertragen, wo staatliche Strukturen versagen. Entsprechend ist mein Forschungsinteresse nie ausschließlich theoretisch, sondern es geht mir immer auch um die behördliche und rechtliche Praxis in diesen Ländern.

In diesem Zusammenhang beschäftige ich mich mit dem islamischen Recht. Es hat wie jedes religiöse Rechtssystem zwei wesentliche Probleme. Da es auf Offenbarung basiert, ist es ab einem bestimmten Punkt keiner Kritik mehr zugänglich ("heiliges" Recht nach Max Weber). Zugleich ist es personenbezogen und widersetzt sich daher der rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Ob eine Handlung "gut" oder "schlecht" ist, hängt also ganz entscheidend davon ab, wer sie und unter welchen Umständen und mit welcher Absicht tätigt.

uni:view: Woran arbeiten Sie derzeit?
Afsah:
Momentan arbeite ich mit Kollegen aus Singapur an einem Buch über den Beginn moderner Staatlichkeit in Südasien, wo ich die Entstehungsgeschichte und Wirkung der afghanischen Verfassung von 1964 beschreibe. Mit Heidelberger Kollegen untersuche ich die Rolle der freien Wirtschaft als Ergänzung schlecht funktionierender staatlicher Entwicklungshilfe. Wir hoffen, auf dieser Grundlage ein größeres Projekt zur Konstitutionalisierung wirtschaftlicher Regulierungssysteme im islamischen Raum zu initiieren, womit ich an meine im letzten Jahr an der Harvard Law School begonnenen Forschungsarbeiten anschließen möchte.

uni:view: In der Forschung greifen Sie auf Ihre Erfahrungen in Afghanistan zurück, wo Sie über viele Jahre im Auftrag verschiedener Regierungen und internationaler Organisationen als Berater für Justizaufbau tätig waren. Wie sind Sie zu dieser Aufgabe gekommen?
Afsah:
Wie die Jungfrau zum Kind. Ich habe zwar parallel zu Jus auch Politik- und Verwaltungswissenschaften studiert. Aber das Thema Staatsaufbau und die Politikberatung kamen erst später dazu, neben meinem Doktoratsstudium. Während andere die Wohnung aufräumen, um sich von der Doktorarbeit abzulenken, flüchtete ich mich eben in die Beratungstätigkeit. Eigentlich hatte ich geplant, eine ganz klassische juristische Ausbildung zu machen, aber die Beratung kam als langer, lehrreicher Umweg dazwischen.

2003 hat mich das Heidelberger Max-Planck-Institut für Völkerrecht zur Amtshilfe für die Bundesregierung nach Afghanistan geschickt, weil ich die Sprachkenntnisse und die passende Ausbildung mit einer internationalen Ausrichtung mitbrachte. Mit meinem iranischen Hintergrund kam ich dort auch kulturell gut zurecht. Da es nur relativ wenige für solche Aufgaben geeigneten und willigen Leute gibt, wurde ich in der Folgezeit immer wieder an verschiedene Organisationen "verliehen" bis ich dann irgendwann ein Vollzeitberater bei einer großen amerikanischen Unternehmensberatung geworden war. Alle diese Posten sind an mich herangetragen worden, bewerben musste ich mich nie. Das änderte sich natürlich schlagartig, als ich zurück in die Wissenschaft wollte.

Ebrahim Afsah ist in seiner Karriere bereits viel herumgekommen: Er studierte in London, Dublin, Harvard und Heidelberg, arbeitete in Nairobi, Amman, Tunis und Kabul und forschte bzw. lehrte bereits in Florenz, Oslo, Harvard, Singapur und Kopenhagen. Hier ist er (Mitte li.) mit dem afghanischen Obersten Richter Mahnawi (Mitte re.) im Panshirtal/Afghanistan. (© Ebrahim Afsah)

uni:view: Was sind wichtige Fragen beim Verwaltungsaufbau in Afghanistan?
Afsah:
In Afghanistan zeigen sich viele Probleme in Extremform, die im Prinzip auch anderswo auftauchen. In Dänemark funktionieren die bürokratischen Strukturen z.B. etwas besser als in Deutschland. Aber deutsche Behörden können sich beim Nachbarn nicht einfach etwas abschauen, weil die Strukturen beider Länder historisch gewachsen und daher pfadabhängig sind. Diese Schwierigkeiten zeigen sich exemplarisch in den unleidigen Diskussionen um die PISA-Studie oder den Bologna-Prozess, oder ganz massiv bei der Regulierung der Privatsphäre, Informationsfreiheit, Steuergerechtigkeit etc.

Letzteres trifft auch auf Afghanistan zu, aber im Unterschied zu Deutschland sind hier die Verwaltungsstrukturen dysfunktional. Viele Berater kommen mit der Erwartung, dass eine afghanische Verwaltung schlichtweg nicht mehr existiert, so dass sie ihre Modelle auf eine "tabula rasa" übertragen können. Das stimmt nicht, in Afghanistan gibt es eine Behördenstruktur, etwa ein Justizwesen. Diese ist aber ineffizient, in Teilen kontraproduktiv, aber eben auch resilient und diese Eigenarten und Widerstände müssen daher in Reformprozesse eingeplant werden.

In seiner Freizeit ist Ebrahim Afsah ein leidenschaftlicher Amateurfotograf. "Ursprünglich wollte ich mal Fotograf werden, aber ich bin ja Migrant. Da war klar, ich muss etwas Ordentliches studieren, anstatt Künstler zu werden", lacht der Wissenschafter. Seine Fotos setzt der Völkerrechtler und Islamwissenschafter in der Lehre ein. Im Bild: Ebrahim Afsah vor dem Band-e Amir, einem natürlichen Stausee. (© Ebrahim Afsah)

uni:view: Wie können Politikberaterinnen und -berater dabei helfen, Reformen umzusetzen?
Afsah:
Sie müssen bestehende Strukturen verstehen und von innen heraus verändern. Hierbei treffen sie auf durchaus nachvollziehbare politische Widerstände der Beamten und Organisationen, die eigenen Interessen folgen. Daher ist es für sie sinnvoll, sich bestimmten Reformen entgegenzustellen. Aber zusammengenommen zeitigt deren Handeln unerwünschte Ergebnisse. Wir haben es hier mit ausländischen Steuerzahlern und lokalen Bürgern auf der einen Seite sowie mit ausländischen Beratern und ineffektiven, oft korrupten lokalen Beamten auf der anderen Seite zu tun – mit einem "Kartell der guten Absichten",  wie es der US-Ökonom William Easterly formuliert.

Es ist wichtig, die lokalen Akteure einzubinden, damit Veränderung zu ihrem eigenen Interesse wird. Aber das braucht seine Zeit, und angesichts der politischen Vorgaben sind Reformen meist unerfüllbar. Zudem sind Berater letztlich den Interessen jener Organisation verpflichtet, die sie bezahlt. Deswegen bin ich wieder an die Universität gegangen, wo ich frei arbeiten kann. Es ist ja die Aufgabe unabhängiger Forschung, dass sie unangenehme Dinge beim Namen nennt und die Gegebenheiten so beschreibt und analysiert, wie sie wirklich sind.

uni:view: Was ist das Schönste an Ihrer akademischen Arbeit?
Afsah:
Der edelste Teil meiner Aufgabe ist die Ausbildung junger Menschen. Mir ist es wichtig, den Studierenden akademische Standards zu vermitteln und sie zu kritischem Denken zu ermutigen. Die Universität ist nicht nur eine Bildungsinstitution, sondern auch die Hüterin der Wahrheit. Wenn Studierende lernen, sich Modelle zu erarbeiten, mit denen sie eine komplexe Realität objektiv untersuchen und bewerten können, müssen sie unweigerlich auch eigene normative Präferenzen auf die Waagschale legen. Dass kann unangenehm sein, aber die Universität ist kein Ort, an dem man es bequem haben sollte. (jr)

Ebrahim Afsah ist seit September 2018 Professor für Rechtswesen und Ethik im Islam an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Am Donnerstag, 16. Mai 2019 hält er um 17 Uhr im Großen Festsaal der Universität Wien seine Antrittsvorlesung zum Thema "Universelles Völkerrecht? Das Recht der Moderne als Herausforderung für die islamische Welt". Zur Einladung (PDF)