In memoriam Alice Teichova (1920-2015)
| 16. März 2015Die Universität Wien trauert um Alice Teichova. Die britische Wirtschaftshistorikerin und Ehrendoktorin der Universität Wien verstarb am 12. März im Alter von 95 Jahren in Cambridge. Ein Nachruf.
Alice Teichova ist nicht mehr. Sie ist am 12. März 2015 in einem Altenpflegeheim in Cambridge nach längerem, geduldig ertragenem Leiden von uns gegangen. Für alle, die sie gekannt haben, ist dies eine Nachricht, die tief betroffen macht und den Verlust einer großen und beeindruckenden Persönlichkeit schmerzlich empfinden lässt. Alice war nicht nur selbst eine herausragende Wissenschafterin von internationalem Rang sondern sie war auch Vorbild, Vermittlerin und Integrationsfigur für mehrere Generationen jüngerer Wissenschafter und Wissenschafterinnen aus dem Bereich der neueren Wirtschafts- und Zeitgeschichte.
Ihr Lebensweg steht exemplarisch für das Schicksal einer verfolgten Generation, die alle politischen Wirren des "Zeitalters der Extreme" und alle damit verbundenen Brüche und Neuanfänge hautnah miterlebte. Die am 19. September 1920 in Wien geborene Alice Schwarz stammte aus einer voll emanzipierten jüdischen Wiener Handwerkerfamilie. Der "Anschluss" im März 1938, vor genau 77 Jahren, bedeutete für die ganze Familie eine einschneidende Zäsur. Zunächst gelang es lediglich, die erst knapp 18-jährige Alice im Rahmen eines "Kindertransports" nach England zu schicken, wo sie bei einer Familie als Haushaltshilfe unterkam. Zum Glück schaffte es später auch die restliche Familie zu emigrieren, wobei ihr zugutekam, dass der Vater als gelernter Uhrmacher Verwendung in der englischen Industrie fand. In Exeter begegnete ihr 1940 ihr späterer Ehemann Mikuláš Teich, dessen Familie aus Ružomberok in der Slowakei stammte. Beide blieben seither unzertrennlich, wie Philemon und Baucis in der griechischen Mythologie. 1942 erhielt Alice ein Stipendium an der Universität Leeds, wo sie 1945 mit einem B.A. Honours in Economics abschloss.
Das Ehepaar Teich entschloss sich nach dem Krieg, in die Heimat von Mikuláš, in die CSSR, zurückzukehren, wo Alice ihre Studien fortsetzte, nicht nur Tschechisch lernte sondern auch 1952 mit dem Prädikat summa cum laude an der Karls-Universität Prag promovierte, 1960 zum Kandidaten der Historischen Wissenschaften ernannt wurde, und sich an der Karls-Universität 1964 habilitierte. Alice wirkte fortan als Dozentin für Wirtschaftsgeschichte, während sich ihr Mann, der ursprünglich Chemie studieren wollte, als Wissenschaftshistoriker einen Namen machte. Das Ehepaar Teich, dem in rascher Folge zwei Kinder geboren wurden, machte also Karriere in einem Land, in dem 1948 die Kommunisten die Macht übernommen hatten. Bei aller inneren Distanz zu manchen Vorgängen, etwa den Slansky-Prozessen, blieben sie zeitlebens einer geistigen Haltung verbunden, die man als einen "idealisierten Marxismus" – an sich ein Widerspruch per se – charakterisieren könnte. Weil sie gleichzeitig stets eine große Liberalität in ihrem Denken, intellektuelle Redlichkeit, Offenheit im wissenschaftlichen Diskurs, Verständnis und Liebenswürdigkeit im Umgang mit anders Denkenden an den Tag legten, fanden sie Freundschaft, Achtung und Wertschätzung auch unter Menschen mit ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen. Alice Teichova hat dies selbst auf folgende Formel gebracht: "Viele Kollegen und Freunde wundern sich zwar, respektieren aber, dass wir auch weiterhin über Formen des Sozialismus und eine Gesellschaft, die gerechter, egalitärer und menschlicher ist, nachdenken."
Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 eröffnete die Möglichkeit, nach Großbritannien zurückzukehren. Zunächst erhielt Alice Teichova Aufnahme am damals noch als reines "Frauen-College" geltenden Girton College in Cambridge und wurde bald darauf an die University of East Anglia in Norwich berufen, wo sie bis zu ihrer Emeritierung wirkte. Ihr Mann wiederum wurde Fellow am neu gegründeten Robinson College in Cambridge, wo das Ehepaar Teich auch seinen dauernden Wohnsitz nahm.
Weitere akademische Auszeichnungen und Ernennungen blieben nicht aus: Sie war seit 1980 Fellow der Royal Historical Society, und Woodrow Wilson Fellow in Washington, seit 1986 Fakultätsmitglied an der Faculty of Economics and Politics in Cambridge, Fellow des Swedish Collegium for Advanced Studies in the Social Sciences, seit 1992 Fellow am Center for the Humanities, Oregon State University, USA; sie ist auch Emeritus Leverhulme Fellow und wurde 1989 Senior Research Associate an der London School of Economics and Political Science; sie empfing zwei Ehrendoktorate, nämlich von den Universitäten Upsala 1985 und Wien (1995), 2002 erhielt sie den renommierten Anton Gindely-Preis verliehen, sie wurde u. a. 2011 mit dem Goldenen Ehrenzeichen des Landes Wien ausgezeichnet. Alice Teichova hat auch die für sie psychisch äußerst belastende Verpflichtung, an der österreichischen Historikerkommission 1998-2003 mitzuwirken, auf sich genommen.
Wenngleich man die Zeit in der Tschechoslowakei nicht unterschätzen sollte, die emotional eine wichtige Rolle spielte, so erfolgte ihre akademische Sozialisation überwiegend in der angloamerikanischen Welt. Dies erlaubte dem Ehepaar Teich, eine ganze Generation von jüngeren Historikern und Historikerinnen insbesondere in Österreich nachhaltig zu prägen. und mit der internationalen Entwicklung ihres Faches vertraut zu machen. Im Jahre 1972 wurde Alice Teichova, die ich damals auf einer Konferenz in Marburg a. L. kennenlernte, erstmals nach dem Krieg wieder nach Österreich im Rahmen eines British Council-Stipendiums von mir eingeladen. Damit begann eine über vierzig Jahre reichende Verbindung und Freundschaft mit dem Ehepaar Teich, das dieses an zahlreiche österreichische Universitäten führte. Auch haben sie dem österreichischen Nachwuchs die Tür nach England und den Vereinigten Staaten weit geöffnet, was sich in vielen Gastaufenthalten und gemeinsamen Projekten niederschlug. Viele englischsprachige Publikationen kamen durch die Kooperation mit Alice Teichova erfolgreich zustande. Alice Teichova eröffnete damit für den in den 1970er und 1980er Jahren nach einer geistigen Neuorientierung suchenden akademischen Nachwuchs im Österreich eine Möglichkeit, den Anschluss an die internationale Entwicklung in ihrem Fach zu finden. Der persönliche Kreis, den sie um sich aufbauten, überschneidet sich in vielfacher Weise, und es finden sich darin letztlich alle Namen wieder, die in den letzten vierzig Jahren in der österreichischen Wirtschafts- und Zeitgeschichte eine Rolle spielen.
Viele Publikationen, Monographien, Sammelbände und Artikel in renommierten Journalen sind das Ergebnis ihrer herausragenden wissenschaftlichen Laufbahn. Die Wiederverleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft im Rahmen eines feierlichen Akts in der Botschaft in London war ein besonderes emotionales Erlebnis für Alice Teichova; das Ehepaar Teich hat in den letzten Jahren immer wieder zumindest ein bis zwei Monate in Österreich verbracht und dieses als zweite Heimat empfunden. Es ist letztlich tragisch, dass Alice Teichova in den letzten Jahren erkennen musste, wie sehr sie, die immer alle Höhen und Tiefen des Lebens für die ganze Familie gemeistert hat, auf die fürsorgliche Pflege ihres Mannes angewiesen war, mit dem sie 75 Jahre ihres Lebens so eng verbunden war.
Alice, Du wirst in unseren Herzen weiterleben, und wir werden Dir stets ein ehrendes Andenken bewahren.
emer.o.Univ.Prof. Dr.phil. Herbert Matis (Wirtschaftshistoriker an der WU Wien)