In Memoriam Walter Thirring (1927-2014)

Das Leben und Wirken von Walter Thirring, zuletzt emer. ordentlicher Professor der Theoretischen Physik an der Universität Wien, ist ein faszinierendes Kapitel der Geschichte der Physik des 20. und frühen 21. Jahrhunderts sowie der intellektuellen Geschichte Österreichs in dieser Zeit. Ein Nachruf.

In einem kurzen Nachruf ist es unmöglich, allen Facetten dieses langen und reich erfüllten Lebens gerecht zu werden. Ich werde mich daher auf sein wissenschaftliches Werk und seine Rolle als einer der Gründungsväter der modernen mathematischen Physik beschränken.

Mathematische Physik ist eine Disziplin, die sich innerhalb der theoretischen Physik durch besondere Anforderungen an konzeptuelle Klarheit und mathematische Strenge der Argumente auszeichnet. Ein Musterbeispiel eines mathematischen Physikers war Sir Isaac Newton, der im 17. Jahrhundert die Gesetze der Gravitation in der Sprache der Mathematik formuliert und deren Konsequenzen für die Bewegung von Himmelskörpern als mathematische Theoreme nach allen Regeln der Kunst hergeleitet hat. Es ist eine großartige Leistung von Walter Thirring und anderen Pionieren der modernen mathematischen Physik, eine solche methodische Vorgangsweise in die Physik des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie, die statistische Physik und die allgemeine Relativitätstheorie eingeführt zu haben. Für Thirring standen stets die physikalischen Fragen im Vordergrund, und bevor er in seinen Arbeiten mathematisch zur Sache ging, sondierte er das Gelände ausgiebig durch brillante physikalische Intuition und heuristische Argumente.

Aus der Geschichte der Musik ist bekannt, dass manch hervorragender Heldentenor bisweilen seine Karriere als Baritonsänger begonnen hat. Walter Thirring war nicht von Anfang an ein mathematischer Physiker, sondern begann seine Karriere zunächst als exzellenter Bariton der theoretischen Physik. In seine erste Schaffensperiode fallen seine Arbeit über die Divergenz von Störungsreihen in der Quantenfeldtheorie (1953), eine Arbeit über ein exakt lösbares Modell der relativistischen Quantenfeldtheorie, das seither als das Thirring-Modell bekannt ist (1958), und seine Monographie über Quantenelektrodynamik. Weitere wichtige Arbeiten "On the number of fundamental fields" und "Three-field theory of strong interactions" zeigten Ideen auf, die später zum sogenannten "achtfachen Weg" und der Theorie der Quarks von Gell-Mann und Ne'eman weiterentwickelt wurden.

In den 60er Jahren verbreiterte Walter Thirring sein fachliches Repertoire zuerst in Richtung der Gravitationsphysik und allgemeinen Relativitätstheorie, gefolgt von statistischer Physik, der Physik der kondensierten Materie und der Atomphysik. Gleichzeitig wurden seine Arbeiten mathematischer und er entwickelte seinen unverkennbaren Stil, modernste mathematische Methoden heranzuziehen, um harte physikalische Nüsse zu knacken. So hat er als einer der Ersten moderne Differentialgeometrie in der allgemeinen Relativitätstheorie verwendet. In seinen anderen Disziplinen wurden wiederum völlig andere mathematische Techniken aus der Funktionalanalysis und der Theorie der Operatoralgebren benötigt. Keine dieser Techniken gehörten zum mathematischen Curriculum eines Physikstudenten während seiner Studienzeit. Es ist bemerkenswert, mit welcher Schnelligkeit Walter Thirring lernte, sie mit größter Meisterschaft zu beherrschen und für seine Ziele einzusetzen, die immer durch physikalische Fragestellungen begründet waren. Als Beispiel für ein Werk aus den 60er Jahren möchte ich hier die Arbeiten mit Alfred Wehrl über das Bardeen-Cooper-Schrieffer (BCS) Modell der Supraleitung nennen. Diese Theorie basiert auf einem raffinierten Ansatz für den Hamiltonoperator für die Wechselwirkung von Elektronen und Phononen, die zur Supraleitung führen können. Die Frage war, ob dieser komplizierte Operator durch einen einfacheren ersetzt werden kann, unter Beibehaltung seiner wesentlichsten Eigenschaften im thermodynamischen Limes. Um dieses Problem zu lösen, war ein tiefes Verständnis der mathematischen Feinheiten notwendig, die bei einem Quantensystem im Grenzfall unendlich vieler Freiheitsgrade auftreten können. Thirring und Wehrl lösten dieses Problem mit Bravour und konnten die gestellte Frage positiv beantworten.

Anfang der 70er Jahre erwachte Thirrings Interesse an der Quantentheorie von Vielteilchensystemen mit Coulomb- und/oder Gravitationswechselwirkung. In beiden Fällen sind die Wechselwirkungskräfte langreichweitig und singulär, wenn zwei Teilchen sich am gleichen Ort befinden. Während aber Gravitationskräfte immer attraktiv sind, können Coulombkräfte sowohl attraktiv als auch repulsiv sein. Im Zusammenspiel mit dem Paulischen Ausschließungsprinzip für Fermionen, führt diese Art von Wechselwirkung zu einem mathematischen Modell, das eine äußerst reichhaltige Palette an physikalischen Phänomenen vorhersagt und erklärt – von atomaren Längenskalen bis hin zu den Sternen. Auf diesem Gebiet verfasste Thirring mit Ko-Autoren wie Peter Hertel, Heide Narnhofer, Harald Grosse und Elliott Lieb viele wunderschöne und bahnbrechende Arbeiten. Dazu gehört z.B. sein Werk mit Hertel und Narnhofer über den Gravitationskollaps und die negative spezifische Wärme bei gravitierenden Systemen. Mit Narnhofer studierte er die Konvexitätseigenschaften im Energiespekrum von Coulombsystemen, die zu verschiedenen strengen Ungleichungen in der Atom- und Molekülphysik führten.

Eine Arbeit mit Lieb von 1975 über die Stabilität der Materie wurde zu einem Meisterwerk der mathematischen Physik des 20. Jahrhunderts. Auf diese möchte ich hier genauer eingehen.
Die Frage ist die folgende: Wie kommt es, dass eine aus Kernen und Elektronen zusammengesetzte Materie sich nicht zusammenzieht und Energie freisetzt, wenn immer mehr Teilchen hinzugefügt werden? Warum ist das Volumen eines makroskopischen Körpers proportional zu der Anzahl der darin gehaltenen Kerne und Elektronen? Wie Freeman Dyson schon Mitte der 60er Jahre zeigte, ist dies eine höchst nicht-triviale Frage: Wären die Elektronen Bosonen, d.h. würden sie dem Pauli-Verbot nicht gehorchen, wäre Materie nicht stabil, und das Zusammenbringen von makroskopischen Materiestücken würde eine Explosion von der Stärke einer Atombombe auslösen. Dass das Pauli-Verbot die Stabilität wenigstens im Prinzip retten kann, wurde zuerst in einer bewundernswerten Arbeit von Dyson und Andrew Lenard im Jahr 1967 bewiesen. Weil aber in diesem Beweis eine mathematische Konstante, die in ihrer unteren Schranke für die Energie eingeht, einen absurd hohen Wert hatte, würde die Welt ganz anders aussehen, als wir sie kennen.

Lieb und Thirring griffen das Problem von einer ganz anderen Richtung an. Während Dyson und Lenard sich bildlich mit der Machete ihren Weg durch den Urwald gebahnt hatten, überflogen Lieb und Thirring das Gestrüpp, indem sie von einer bemerkenswerten Eigenschaft der Thomas-Fermi Theorie der Atomphysik ausgingen: In dieser Theorie ist Materie stabil, wie zuerst schon Edward Teller Anfang der 60er zeigen konnte. Was fehlte, war aber eine Brücke von der Thomas-Fermi Theorie zum vollen quantenmechanischen Modell. Diese bauten Lieb und Thirring durch eine nach ihnen benannte Ungleichung. Damit konnten sie die von Dyson und Lennard angegebene untere Schranke für die Energie um volle vierzehn Zehnerpotenzen auf einen realistischen Wert senken. Die Lieb-Thirring Ungleichung löste später eine ganze mathematische Industrie aus, so dass heute sogar Konferenzen zu diesem Thema abgehalten werden.

Die bisher erwähnten Beiträge Thirrings zur mathematischen Physik bilden nur einen Teil seiner weit über 200 veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten. Es ist unmöglich, an dieser Stelle mehr als einigen davon gerecht zu werden, aber ich möchte wenigstens noch das Gebiet der quantendynamischen Systeme und nichtkommutativen Ergodentheorie erwähnen. Dazu verfasste Thirring zusammen mit Heide Narnhofer und dem Mathematiker Alain Connes eine grundlegende Arbeit, in der die Kolmogorov-Sinai Entropie von maßerhaltenden Transformationen zu einer quanten-dynamischen Entropie für Automorphismen auf nichtkommutativen Operatoralgebren verallgemeinert wurde. Seine Zusammenarbeit mit Harald Posch, in der die Fragestellungen der statistischen Physik auch in Computersimulationen analysiert wurden, bezeugen auch sein Verständnis für die Wichtigkeit solcher Methoden.

Schließlich wäre diese Würdigung unvollständig ohne die Erwähnung seines vierbändigen Kurses in mathematischer Physik, der seinesgleichen auf der Welt  sucht. Die Informationsdichte und die Fülle tiefer Einsichten in diesem Werk ist atemberaubend. Sie wird noch für viele Generationen ein Goldstandard der mathematischen Physik bleiben.

Walter Thirring hat der internationalen Forschung und Lehre in mathematischer Physik unschätzbare Dienste geleistet. Zu seinen Verdiensten möchte ich auch das Erwin-Schrödinger-Institut in Wien zählen, das ohne sein Engagement nicht gegründet worden wäre. Thirring lenkte das Institut in die richtige Richtung, zuerst als dessen Gründungspräsident und Direktor und dann als Ehrenpräsident des gleichnamigen Vereins, der das Institut bis 2011 betrieb. Heute geführt als Forschungsplattform der Universität Wien, kann das Institut auf eine 21-jährige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Laut internationalen Evaluationen gehört es zu den weltweit bekanntesten Zentren auf seinem Gebiet mit über 500 Besuchern jährlich. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Vermächtnis von Walter Thirring der Wissenschaft noch viele Jahre erhalten bleibt.

Jakob Yngvason für die Fakultät für Physik und die Gruppe Mathematische Physik der Universität Wien

Leseempfehlung:

Anlässlich seines 80. Geburtstags widmete das Internationale Erwin-Schrödinger-Institut für Mathematische Physik Walter Thirring im Jahr 2007 eine Sonderausgabe der "ESI News" (PDF). Sie enthält viele Beiträge von Mitarbeitern, Freunden und früheren Schülern von Thirring, die sein Wirken von verschiedenen Seiten würdigen.