"Schule muss sich verändern"
| 22. März 2018Im März 2013 kam Lutz-Helmut Schön von Berlin nach Wien, um das Zentrum für LehrerInnenbildung aufzubauen und zu leiten. Mit April 2018 übergibt er es seinem Nachfolger Manfred Prenzel. Im Interview spricht der Didaktiker über seine Erfolge, die Zukunft der Schule und seine Pläne für die Pension.
uni:view: Sie haben das Zentrum für LehrerInnenbildung innerhalb von fünf Jahren aufgebaut und zu einer funktionierenden Einheit gemacht. Was waren dabei die größten Herausforderungen?
Lutz-Helmut Schön: Die Zusammenführung der pädagogischen Hochschulen mit der Universität Wien und die Entwicklung eines gemeinsamen Curriculums. Es war mir nicht klar, wie unterschiedlich die Pädagogischen Hochschulen in Österreich im Vergleich zu Deutschland sind. Die wenigen, die es dort noch gibt, sind in Forschung und Lehre völlig gleichberechtigt mit den Universitäten. Daher bin ich relativ unbefangen an die Sache rangegangen – was aber gut so war.
uni:view: Im Herbst 2016 startete das gemeinsame Lehramtsstudium im Verbund Nord-Ost. Was ist ihr Resümee bisher, hat sich das Modell bewährt?
Schön: Wir haben die neuen Curricula mit den KollegInnen der Pädagogischen Hochschulen angeschaut und überlegt, welche Änderungen notwendig sind, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Im Entwicklungsprozess waren auch Studierende mit eingebunden. Ob sich die Lehre nun wirklich verbessert hat, lässt sich empirisch schwer messen. Doch ich denke, wir haben das ganz gut hingekriegt. (schmunzelt) Vor allem der erhöhte Praxisanteil ist eine gute Lösung: So erhalten die Studierenden spannende Einblicke in die Unterrichtsforschung.
uni:view: Ist das Interesse am LehrerInnenberuf durch die nun längere Ausbildung gesunken?
Schön: An den Pädagogischen Hochschulen konnte man das Studium in sechs Semestern abschließen, weshalb sich viele im zweiten Bildungsweg für diesen Beruf entschieden haben. Jetzt sind es vier Jahre Bachelor und zwei Jahre Master – das ist ein Unterschied. Eine Gruppe zukünftiger LehrerInnen fällt durch die verlängerte Ausbildung sicherlich weg.
uni:view: Andererseits wird der Quereinstieg für jene, die bereits ein abgeschlossenes Studium haben, erleichtert …
Schön: Ja, für eine Nachqualifizierung gibt es bereits Entwürfe. Auch die Initiative "Teach for Austria" läuft bereits erfolgreich. Doch ist diese Entwicklung aus Sicht unserer Studierenden nicht nur positiv: Immerhin werden für Mangelfächer Menschen von außen reingeholt und wenn unsere Studierenden an die Schulen wollen, sind die Stellen bereits besetzt. Für die Schulen ist es aber auf jeden Fall ein Gewinn, wenn sie geeignete "berufserfahrene" LehrerInnen an Bord holen.
uni:view: Sie haben die Mangelfächer angesprochen, wird hier bewusst "gesteuert"?
Schön: Wir wollen keine Planwirtschaft. Aber natürlich muss der Stadtschulrat bzw. die Schulverwaltung klar kommunizieren, welche Schulfächer in den nächsten Jahren Bedarf haben. Hier wird es entsprechende Listen geben. Wobei die Erfahrung zeigt, dass eine Planung selten klappt, weil der zeitliche Verzug so groß ist. Natürlich haben wir in gewissen Lehramtsfächern – wie Philosophie, Psychologie, Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung – zu viele Studierende, doch das zu regulieren ist schwer.
"An unserer Universität gibt es über alle Fakultäten und Fächer hinweg mehr als 70 DoktorandInnen, die zu Fragen des Lernen und Lehrens forschen. Im Rahmen des neuen Doktoratsprogramms LehrerInnenbildung können sich diese besser vernetzen. Im Programm werden Kurse zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Methoden, zum wissenschaftlichen Schreiben, zur Antragstellung für die Forschungsförderung und vieles mehr angeboten", so Schön zum neuen Doktoratsprogramm. (© Universität Wien/Barbara Mair)
uni:view: Seit kurzem gibt es das Doktoratsprogramm LehrerInnenbildung. Was ist das Ziel?
Schön: Das Doktoratsprogramm wendet sich in erster Linie an die DoktorandInnen der Universität. Wir wollen aber auch dazu beitragen, die forschungsbasierte Lehre an den Pädagogischen Hochschulen zu intensivieren, und werden einzelne DozentInnen, die an einem Doktorat interessiert sind, in das Doktoratsprogramm aufnehmen. Darüber hinaus hoffen wir auch, dass sich einzelne hochmotivierte LehrerInnen zeitweise aus den Schulen herauslösen können, z.B. in Form einer Bildungskarenz, um intensiv an einer Dissertation zu arbeiten. Schulen können LehrerInnen, die intensiv wissenschaftlich gearbeitet haben, gut brauchen – denn Schule muss sich verändern.
uni:view: Warum sollten LehrerInnen auch an Universitäten ausgebildet werden?
Schön: LehrerInnen, die eine Wissenschaft als Schulfach vermitteln, sollten diese auch wirklich kennengelernt haben. Denn wenn sie in ihrem Fach kompetent sind, motiviert das die SchülerInnen fachlich. Zugleich vermitteln LehrerInnen auch das Rollenbild des kompetenten Erwachsenen. Daher ist die fachliche Kompetenz der LehrerInnen wichtig – und das leistet die Universität eindeutig besser als die Pädagogische Hochschule.
uni:view: Eines ihrer großen Projekte ist der Lehramtskompass, der vor kurzem vorgestellt wurde. Was kann dieser?
Schön: Das ist eine Weiterentwicklung des Online-Self-Assessment, das SchülerInnen und Studierenden bei der Wahl des richtigen Studiums hilft. Wir wollen mit dem Lehramtskompass die Studierenden in ihrem Studium auf elektronischem Wege begleiten und ihnen vielfältige Hilfestellungen anbieten. Der Lehramtskompass ist bei bestimmten Studienproblemen, z.B. bei wissenschaftlichen Arbeiten, Zeitmanagement oder Prüfungsangst hilfreich.
Arbeiten sich Studierende durch die verschiedenen Module des Lehramtskompasses, erhalten sie Rückmeldungen und persönliches Feedback auf das eigene Antwortverhalten sowie weitere Quellen für vertiefendes Arbeiten. "Wir hoffen, dass das Instrument auch in der Lehre eingesetzt wird. Die Idee ist, dass die KollegInnen z.B. vor einer Bachelor- oder Seminararbeit ihre Studierenden die entsprechenden Module erarbeiten lassen", so Lutz-Helmut Schön.
uni:view: Wären Sie Bildungsminister, was würde für Sie an oberster Stelle der Reformagenda stehen?
Schön: Es gibt im neuen Regierungsprogramm einige Vorhaben, die ich als Bildungsminister nur sehr ungern umsetzen würde. Bei allen Entscheidungen und Veränderungen sollte die Wertschätzung der Aufgaben von LehrerInnen an erster Stelle stehen. Eine sinnvolle und finanziell abgestützte Autonomie der Schulen kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Jedoch bin ich konservativ genug, dass ich ein gestuftes Schulsystem durchaus für gut und zielführend halte. Die pädagogische Idee dahinter ist, dass alle SchülerInnen eine Chance erhalten, in bestimmten Bereichen gut oder sehr gut und in ihrer Peer Group anerkannt zu sein – und das ist für das Selbstwertgefühl und die Leistungsbereitschaft ungemein wichtig.
uni:view: Ein vieldiskutiertes Thema ist der digitale Analphabetismus. Wie reagiert das Zentrum drauf?
Schön: In all unseren Curricula steht irgendwo das Stichwort Digitalisierung – meistens in Verbindung mit der Fachdidaktik. Doch das ist letztlich zu wenig. Die Entwicklung digitaler Kompetenzen von SchülerInnen und Lehrpersonen ist eine Querschnittsaufgabe und sollte zum festen, fächerübergreifenden Bestandteil der LehrerInnenbildung werden. Aktuell ist eine Professur für "Digitalisierung im Bildungsbereich" ausgeschrieben. Damit sollen Fragen auf theoretischer Ebene beantwortet werden: Wie sich Lehren und Lernen durch Digitalisierung verändern wird und muss, ist eine große Herausforderung für die Zukunft – auch für das Zentrum.
uni:view: Manchmal wird die Schule 4.0 auf eine gute technische Ausstattung reduziert …
Schön: Ja, und das ist zu wenig. Denn diese werden wir an den Schulen nie haben: Erstens wäre es zu teuer und zweitens ist die technische Entwicklung viel zu schnell, sodass die Schulen immer hinterherhinken würden. Vielmehr sollte man beispielsweise bewusst auch das im Unterricht nutzen, was die SchülerInnen mitbringen – fast jede und jeder hat heute ein Smartphone in der Tasche.
uni:view: Für welche anderen zukünftigen Herausforderungen müssen sich LehrerInnen wappnen?
Schön: Für die inklusive Pädagogik – auch das ist eine Querschnittsaufgabe. Ich bin nicht für den völligen Abbau der Sonderschulen, aber für einen sinnvollen Rückbau und einen höheren Anteil von SchülerInnen mit Beeinträchtigungen in allen Schulen. Das ist eine Herausforderung auf der praktischen Ebene: Wie kann der Unterricht für alle fruchtbar gestaltet werden? Wie müssen die LehrerInnen ausgebildet werden, damit dies gelingen kann? Wie muss sich die Schule räumlich und strukturell ändern? Eine andere Querschnittsaufgabe ist das Eingehen auf gesellschaftliche Entwicklungen im Sinne politischer Bildung: Wie können wir verhindern, dass Gewalt zur Regel wird, religiöse Auseinandersetzungen eskalieren oder SchülerInnen ins rechte Lager abdriften?
uni:view: Welche Rolle spielt dabei das Zentrum?
Schön: Wir sehen diese Themen quer zu den Unterrichtsfächern. Die Schule ist einem räumlichen und strukturellen Wandel unterzogen – und dieser sollte auf einer wissenschaftlichen theoretischen Ebene begleitet und mitentwickelt werden. Daher ist auch im Bereich Schulentwicklung eine Professur geplant. Als Folge der Autonomie der Schulen müssen LehrerInnen auch lernen, eine Schule zu führen. Stichwort Schulmanagement.
uni:view: Wenn Sie auf die letzten Jahre zurückblicken, worauf sind Sie besonders stolz?
Schön: Ich hatte immer das Bedürfnis, Schule und Unterricht so zu entwickeln, dass sich die SchülerInnen für das jeweilige Fach begeistern. Ich habe Physik studiert und mich am Ende meines Studiums dafür entschieden, mich nicht der fachlichen Forschung, sondern der Vermittlung der Physik zuzuwenden. Ich wollte und will die Wissenschaft in die Gesellschaft hineintragen – das Zentrum ist ein kleiner Beitrag in diese Richtung.
uni:view: Sie verabschieden sich in die Pension und gehen zurück nach Berlin. Was sind Ihre Pläne?
Schön: Auf keinen Fall die Beine hochlegen und fernsehen. (lacht) Meine ehemaligen Berliner KollegInnen hoffen, dass ich mich dort wieder einbringe, um die Didaktik weiter zu entwickeln. Aber auch zur Universität Wien werde ich Kontakt halten – die Thematik ist mir einfach viel zu wichtig. Meine Wohnung in Wien werde ich jedenfalls noch eine Zeit lang behalten.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (ps)