Eine neue Gedenkwand an der Fakultät für Chemie der Universität Wien erinnert 80 Jahre nach dem "Anschluss" Österreichs an Schicksale von ForscherInnen, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft aus rassistischen und politischen Gründen verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden.
Die neue Gedenkwand bindet zwei bisherige Gedenktafeln ein: Eine Tafel erinnerte bereits an Professor Jacques Pollak, der unter dem NS-Regime seines Amtes an der Universität Wien enthoben wurde und 1942 im KZ Theresienstadt ums Leben kam. Eine weitere Tafel verwies auf die Ereignisse des 5. April 1945, als die zwei Universitäts-Assistenten Kurt Horeischy und Hans Vollmar erschossen wurden, die gegen einen erteilten NS-Befehl Widerstand geleistet hatten.
Die neue Gedenkwand ist im Foyer des heutigen Fakultätsgebäudes der Chemie in der Währinger Straße 42 zu finden. Der Gebäudekomplex wurde ab 1908 für die Disziplinen Physik und Chemie der Universität Wien errichtet.
"Wir treffen uns heute, um eine Gedenktafel zu enthüllen, die sich auf die Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1938 bis zum Ende der Kriegsjahre 1945 bezieht", eröffnet Bernhard Keppler, Dekan der Fakultät für Chemie die Veranstaltung. Gemeinsam mit Rektor Heinz W. Engl begrüßt er einen großen Kreis an Gästen. "Antisemitismus war an der Universität Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet" und die Aufbereitung sei sehr wichtig, betont Rektor Engl in seinem Grußwort.
Martina Malyar, Bezirksvorsteherin des 9. Bezirks, unterstreicht ebenfalls, wie wichtig die Erinnerung an die Vertriebenen und die Sichtbarmachung der Geschehnisse unter der NS-Herrschaft noch heute sind. Hier müsse ein Transfer "in die Jetztzeit" erfolgen, um den derzeit besonders aktuellen Phänomenen wie Faschismus, Rassismus und Antisemitismus zu begegnen: "Dem müssen wir uns stellen."
"Tabula rasa? Gedächtnis und Tafel – was bleibt?" haben die KünstlerInnen Bele Marx und Gilles Mussard die neue Gedenkwand genannt, die sie im Auftrag der Fakultät für Chemie angefertigt haben. Licht und Glas stehen für Aufklärung und Transparenz.
Die neue Gedenkwand kontextualisiert die Geschehnisse "in neuer, würdiger, dem 21. Jahrhundert passender Form", sagt der Zeithistoriker Oliver Rathkolb, der das Projekt von Anbeginn begleitet hat. Die Ermordung der Universitätsassistenten wurde auf Initiative der Fakultät für Chemie und der Universitätsleitung sowie unter Beteiligung des Instituts für Zeitgeschichte historisch aufgearbeitet.
Stephanie Carla de la Barra hat in ihrer Masterarbeit unter Betreuung von Zeithistoriker Oliver Rathkolb nähere Umstände zum Fall aus dem Jahr 1945 aufgedeckt. Die Arbeit ist unter dem Titel "Das Verbrechen ohne Rechtfertigung" im Mandelbaum Verlag auch als Buch erschienen …
… und schließt "eine erinnerungspolitische Lücke", so de la Barra bei ihrem Vortrag im Carl Auer von Welsbach Hörsaal im Anschluss an die Enthüllung.
Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung, berichtet von einem Telefongespräch mit dem 2009 verstorbenen Johannes Mario Simmel, der während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter im Familienunternehmen Kapsch arbeiten musste. Der Schriftsteller war in den letzten Kriegsmonaten im Keller des heutigen Fakultätsgebäudes verborgen und ging in seinem Buch "Wir heißen Euch hoffen" auf die Ermordung der Universitätsassistenten beim Versuch, das Elektronenmikroskop vor der angeordneten Zerstörung zu retten, ein.
Die Zeitzeugen Isaac P. Witz, Robert W. Rosner und Robert A. Shaw (v.l.n.r.) erzählen über ihre letzten Jahre in Wien vor der Flucht. Der Biochemiker und Immunologe Witz und der Chemiker Shaw haben am Vortag das Ehrendoktorat der Universität Wien verliehen bekommen. Die Wissenschaft habe ihn wieder nach Wien zurückgebracht, meint Isaac Witz, der 1939 mit seiner Familie durch Emigration in das Britische Mandatsgebiet Palästina floh. Zuletzt war er im Wintersemester 2017/18 wieder als Gastprofessor an der Universität Wien tätig.
Robert Rosner (Mitte), geflüchtet 1939 mit einem Kindertransport nach England, kehrte "bald nach Kriegsende" nach Wien zurück und begann 1947 an der Universität Wien mit dem Chemiestudium. Das große Thema im Sommer 1938 sei gewesen: "Wie kann man wohin gehen?"
"Ich habe 16 Monate unter Naziherrschaft gelebt": Robert Shaw, als 14-Jähriger aus Wien mit einem der letzten Kindertransporte geflohen und ein renommierter Chemiker mit großen Beiträgen im Bereich der Phosphazen-Chemie, der am Birkbeck College in London forschte, widmete sich wie auch Robert Rosner in den späteren Jahren intensiv der und vor allem seiner Geschichte.
Die neue Gedenkwand kann im Rahmen der Öffnungszeiten der Fakultät für Chemie jederzeit besucht werden. (Alle Fotos: Universität Wien/Philip Lichtenegger)