Buchtipp des Monats von Bertrand Perz, Verena Pawlowsky und Ina Markova

Ina Markova, Verena Pawlowsky und Bertrand Perz

Die Publikation "Inbesitznahmen" arbeitet die Geschichte des österreichischen Parlaments in den Diktaturen zwischen 1933 und 1945 auf. Im Interview erzählen die AutorInnen vom Institut für Zeitgeschichte über die Hintergründe und wechselvolle Historie des Hohen Hauses.

uni:view: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit einem Teil der Historie des österreichischen Parlamentsgebäudes zu beschäftigen?
Bertrand Perz, Verena Pawlowsky und Ina Markova: Die Idee kam vom Parlament. Sie entstand infolge der in der Parlamentsbibliothek durchgeführten Provenienzforschung. Da wurde deutlich, dass es in der Bibliothek etliche Bücher aus der NS-Zeit gab, und es war anzunehmen, dass diese Bücher noch aus der Zeit stammen, als das Parlament als Gauhaus, also als Sitz der Wiener NSDAP, genutzt wurde (1940–1945). Zugleich wurde deutlich, dass über die Geschichte des Hauses in diesen Jahren eigentlich so gut wie nichts bekannt war. Das Parlament gab dann das Forschungsprojekt in Auftrag, dessen Ergebnisse nun in Buchform vorliegen.

Dass wir die Untersuchung auf die Jahre der österreichischen Diktatur (1933–1938) und die Nachkriegsjahre ausdehnten, hat damit zu tun, dass wir einerseits es für notwendig hielten, schon aus Vergleichsgründen die Nutzung des Hauses in der gesamten Zeit nicht-demokratischer Systeme zu untersuchen, und wir uns andererseits auch viel von einem Blick auf die Wiederaneignung des Hauses nach den beiden Diktaturen versprachen.

uni:view: Das Parlament ist eine demokratische Einrichtung. Sie untersuchen in Ihrem Buch die Inbesitznahme dieser Einrichtung durch Diktaturen – Ständestaat und NS-Regime. Können Sie kurz diese Inbesitznahmen skizzieren?
Perz, Pawlowsky und Markova: Der Begriff der Inbesitznahme steht für die Aneignung des Hauses, die zwar entschieden und definitiv, aber doch ohne Gewaltanwendung erfolgte. Die erste Inbesitznahme – jene durch das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime bzw. seine völlig machtlosen Gremien – funktionierte deshalb so gut, weil das Gebäude ja scheinbar in derselben Weise weiterbenutzt wurde wie zuvor. Man nannte es "Haus der Bundesgesetzgebung", was suggerieren sollte, dass der hier nun tagende Bundesrat und die vier neu geschaffenen sogenannten vorberatenden Gremien die Gesetze "machten". In der Realität durften diese Organe aber nicht einmal Gesetze einbringen, die Vorlagen kamen ausschließlich von der Regierung und wurden hier bloß abgesegnet. Es war ein Pseudoparlament, dessen Gremien selten zusammentraten und praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit in ganz kurzen Sitzungen die vorgelegten Gesetze beschlossen.

Die zweite Inbesitznahme funktionierte aber noch besser. Nachdem der Parlamentarismus ja schon zerschlagen war, bedurfte es nach dem "Anschluss" Österreichs im Jahr 1938 gar keines großen Zeichens mehr. Während die nationalsozialistische Machtergreifung im Deutschen Reich im Jahr 1933 eng mit dem Reichstagsbrand verknüpft war, stand das Hohe Haus am Wiener Ring gewissermaßen schon leer. Als Joseph Bürckel, der als Beauftragter des Führers für die Volksabstimmung, als Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich und schließlich auch als Wiener Gauleiter der neue starke Mann werden sollte, zwei Tage nach dem "Anschluss" auf der Suche nach einer Bleibe für seine Dienststelle an dem Haus am Ring vorbeifuhr, war die Entscheidung schnell getroffen. Bürckel residierte hier zwei Jahre lang. Im August 1940 löste ihn Baldur von Schirach ab. Er war es, der das Haus zum Gauhaus erklärte und die Eigentumsfrage endgültig löste: Die Nationalsozialisten nahmen nun das Gebäude auch grundbücherlich in Besitz. Das Deutsche Reich war Hausherr, die NSDAP Mieterin. Die NSDAP behauptete ja, für das Volk zu sprechen – da war es für sie gar kein Widerspruch, sich ausgerechnet im ehemaligen Haus der Volksvertretung niederzulassen. Das bedurfte nur einer minimalen Bedeutungsverschiebung.

uni:view: Wie gestaltete sich der Übergang nach 1945 bis zur ersten Nationalratssitzung?
Perz, Pawlowsky und Markova: Anfangs war das Haus kaum benutzbar. Es war im Februar 1945 zweimal von Bomben getroffen und im Inneren durch Brände zerstört worden. Die erste Sitzung im Haus fand dennoch schon am 29. April 1945 statt, es war allerdings keine Nationalratssitzung, sondern die erste Sitzung der zuvor im Wiener Rathaus zusammengetretenen provisorischen österreichischen Regierung. Diese Sitzung war explizit als symbolische Inbesitznahme gedacht. Dann begann der Wiederaufbau, der sich insgesamt mehr als ein Jahrzehnt hinziehen sollte und immer wieder auch durch Budgetschwierigkeiten gebremst wurde.

Allerdings konnten Teile des Hauses schon bald benutzt werden. Als der Nationalrat nach der ersten Nachkriegswahl im Dezember 1945 erstmals zusammentrat, tat er das im großen ehemaligen Abgeordnetensaal im Nordtrakt des Hauses. Dieser Plenarsaal war nicht zerstört. Der eigentliche Nationalratssitzungssaal hingegen musste völlig neu errichtet werden. Die Architekten Fellerer und Wörle lieferten die Pläne. Die erste Sitzung in diesem Saal fand am 8. Juni 1956 statt und bildet auch den Endpunkt unserer Untersuchung.

uni:view: Wofür steht das Parlamentsgebäude heute?
Perz, Pawlowsky und Markova: Das Parlamentsgebäude steht für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das gilt nicht nur für heute, also für die Zweite Republik, sondern auch für frühere Epochen. Dabei muss man aber bedenken, dass der Bau, der 1883 mit der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses seiner Bestimmung übergeben wurde, aus einer Zeit stammt, in der es noch kein allgemeines gleiches Wahlrecht gab. Demokratie bedeutete damals etwas anderes. Als der Nationalrat im März 1933 ausgeschaltet wurde, hatten in diesem gerade einmal 50 Jahre alten Haus erst 14 Jahre lang Gremien getagt, die wirklich die gesamte Bevölkerung – Männer und Frauen – vertraten. Eine wesentliche Bedeutung jedes Parlamentsgebäudes, und damit auch des Hohen Hauses am Wiener Ring, besteht darin, dass es der repräsentativen Demokratie einen würdigen Ort, eine Bühne und Öffentlichkeit gibt.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:
    
1 x "Inbesitznahmen. Das Parlamentsgebäude in den Diktaturen zwischen 1933 und 1945" von Bertrand Perz, Verena Pawlowsky und Ina Markova
1 x "Unter der Drachenwand" von Arno Geiger

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Perz, Pawlowsky und Markova: Unser Buchtipp ist Arno Geigers Roman "Unter der Drachenwand".

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Perz, Pawlowsky und Markova: Dieses Buch ist die Beschreibung der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges, geschildert aus der Perspektive eines kriegsverletzten Soldaten, der sich zur Erholung in die oberösterreichische Provinz zurückzieht. Akribisch recherchiert, packend und auf besondere Weise realistisch geschrieben, bringt es der Roman fertig, bei den Lesenden ein Gefühl für jene Zeit entstehen zu lassen. Geiger gelingt es mit diesem historischen Roman, auf faszinierende Art "Geschichte zu schreiben".

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Perz, Pawlowsky und Markova: Die Vermittlung von Vergangenheit ist für die Geschichtswissenschaft immer eine Herausforderung. Mit ihrem methodischen Vorgehen hat sie nicht die Freiheit einer Darstellung, die einem historischen Roman zugrunde liegt. Sie kann von der Darstellungskunst von Büchern wie "Unter der Drachenwand" aber durchaus etwas lernen, auch wenn Romane geschichtswissenschaftliche Studien nicht ersetzen können. Letztlich benutzen auch Schriftsteller wie Geiger wissenschaftliche Untersuchungen bei ihren Recherchen. Was bleibt? Der Wunsch, das Buch weiter zu schenken. (td)

Bertrand Perz ist Professor am Institut für Zeitgeschichte und leitete das Projekt "Inbesitznahmen. Das Parlamentsgebäude in den Diktaturen zwischen 1933 und 1945, das von 2015 bis 2018 lief. Die Zeithistorikerinnen Verena Pawlowsky und Ina Markova waren Projektmitarbeiterinnen