Buchtipp des Monats von Birgit Sauer
| 17. Januar 2020Die politische, rechtliche und soziale Situation von unbegleiteten geflüchteten Minderjährigen in Europa steht im Mittelpunkt von Birgit Sauers jüngster Publikation. Im Interview spricht die Politikwissenschafterin über die Hintergründe.
uni:view: Sie sind gemeinsam mit Mateja Sedmak und Barbara Gornik Herausgeberin des Buchs "Unaccompanied Children in European Migration and Asylum Practices". Was ist das Hauptanliegen der Publikation?
Birgit Sauer: Das Buch ist das Ergebnis eines zweijährigen EU-geförderten Forschungsprojekts. Das Projekt wie auch das Buch wollen herausarbeiten, wie mit dem Kindeswohl im Kontext von Migration und Asyl umgegangen wird. Ausgangspunkt ist die UN-Kinderrechtskonvention, die Kindern und Jugendlichen besondere Schutzrechte gewährt. Die Aufsätze im Buch analysieren für vier EU-Länder – Österreich, Slowenien, Frankreich und UK –, ob und wie die Konvention beim Umgang mit unbegleiteten geflüchteten Minderjährigen umgesetzt wird. Das Buch verfolgt also einen normativen Ansatz der Evaluation von Asylpolitiken. Obgleich die vier Länder die Kinderrechtskonvention unterzeichnet haben, wird das Kindeswohl, wie es in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt und gefordert wird, nicht berücksichtigt. Die Asylpolitiken schwanken zwischen Mitleid mit den und Repression der Kinder und Jugendlichen, verabsäumen dadurch aber eine gezielte Umsetzung von Kinderrechten.
Für Österreich konnte beispielsweise herausgearbeitet werden, dass unbegleitete geflüchtete Minderjährige im Vergleich zu österreichischen Kindern ohne Familie als "Zweite-Klasse-Kinder" behandelt werden, weil ihnen weniger Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, und dass mit dem Begriff der "Ankerkinder" diese Kinder diffamiert und als Täter des "Asylmissbrauchs" abgestempelt werden. In keinem der untersuchten Länder besitzt allerdings das Asylverfahren formale Regeln dafür, wie das Kindeswohl im Verfahren festgestellt und vor allem realisiert werden kann. Ziel des Buches ist es also, diese Missstände herauszuarbeiten, aber auch darzulegen, was gut läuft – vor allem auch aus der Perspektive der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Um deren Sichtweisen und Erfahrungen einzufangen, wurden im Rahmen des Projekts Interviews – mithilfe von Pat*innen und Betreuer*innen – geführt. In Österreich werden von den Kindern insbesondere die Möglichkeiten geschätzt, in familienähnlichen Zusammenhängen – z.B. mit Pat*innen – zu leben, um einen "normalen" Alltag haben zu können.
uni:view: Wie hoch ist die Zahl unbegleiteter Kinder unter Geflüchteten in Österreich bzw. Europa?
Sauer: Prinzipiell ist es schwierig, die Zahlen der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten zu erheben, da viele Kinder im Migrationsprozess das Land immer wieder wechseln. Die 14- bis 17-Jährigen, meist sind es Jungs, weit weniger Mädchen, die die Fluchtreise antreten und in Westeuropa ankommen, haben eine lange Reise hinter und in der Regel ein Zielland vor sich, das sie sich aufgrund von verwandtschaftlichen Beziehungen ausgewählt haben. Geschätzt kamen zwischen 2008 und 2013 um die 11.000 oder 13.000 Kinder in der EU an, 2014 um die 23.000 und 2015 etwa 88.000. In Österreich haben im Jahr 2015 etwa 8.300 unbegleitete minderjährige Geflüchtete einen Asylantrag gestellt. Im Jahr 2018 sank die Zahl auf 341 Jugendliche und Kinder in Österreich.
uni:view: Das Buch beschäftigt sich auch sehr stark mit der rechtlichen Komponente. Können Sie kurz das rechtliche Prozedere erläutern, das diese Kinder in Europa/Österreich erwartet?
Sauer: Unbegleitete minderjährige Asylantragsteller*innen werden im österreichischen Recht als "vulnerable", als verletzbare Gruppe betrachtet, mit denen anders als mit erwachsenen Asylwerber*innen umgegangen werden soll. So wird ihnen zur Unterstützung eine Betreuungsperson an die Seite gestellt und sie können, wenn sie noch schulpflichtig sind, eine Schule besuchen. Wenn sie in Österreich ankommen, müssen sie wie erwachsene Asylwerber*innen einen Asylantrag stellen; sie erhalten dabei aber von der Begleitperson Unterstützung. Dennoch müssen sie ihren Asylgrund "glaubhaft" machen, also begründen, weshalb sie sich auf die Fluchtreise gemacht haben – und dies mit Argumenten, die das internationale Flucht- bzw. österreichische Asylrecht anerkennt. Das ist für Kinder und Jugendliche, die rechtlich nicht versiert sind und oft in Panik ihre Heimat verlassen haben, recht schwierig.
Besonders problematisch für Jugendliche ist die Altersfeststellung, die in Österreich oft mit biologistisch-rassistischen Methoden erfolgt; von der Festlegung des Alters hängt die Versorgung ab, aber auch die Möglichkeit, ihre Eltern nach Österreich nachholen zu können. Auch Kinder und Jugendliche müssen zunächst in ein Erstaufnahmezentrum; viele der von uns befragten waren in Traiskirchen. Von dort werden sie dann in Wohngemeinschaften verlegt, wo sie betreut und mit anderen Jugendlichen leben können. Sie erhalten dafür finanzielle Unterstützung (aus der Grundversorgung). Für viele Kinder und Jugendlichen war dieses Prozedere beängstigend – auch wenn sie einen Beistand hatten.
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:
1 x "Unaccompanied Children in European Migration and Asylum Practices" von Barbara Gornik, Birgit Sauer und Mateja Sedmak (Hg.)
1 x "Das Licht der Frauen" von Żanna Słoniowska
uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Sauer: "Das Licht der Frauen" von Żanna Słoniowska aus dem Jahr 2018. Der Roman schildert in einer ungemein sensiblen Sprache die politischen Umbrüche in der Sowjetunion bzw. späteren Ukraine aus der Perspektive der Frauen einer Familie. Vor allem werden die "Freiheitskämpfe" der Frauen eingeflochten.
uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Sauer: Ich habe viel über die politischen Veränderungen in unserer Nachbarregion gelernt und bin total begeistert von der reichen Sprache der Autorin. Sie kann die Emotionalität, die politische Umbrüche in all ihren Ambivalenzen antreiben, ganz wunderbar beschreiben.
uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Sauer: "Ich ging in seine Richtung, das Handy in der erhobenen Hand, ich nahm alles auf." So lautet der letzte Satz. Für mich drückt dieser Satz den Widerstand, die Widerständigkeit von Frauen – der Ich-Erzählerin – aus. Mich hat sehr beeindruckt, wie im Roman dieser Widerstand, dieser Drang nach Unabhängigkeit und zugleich tiefer Verbundenheit dargestellt wird. Dies sind Formen des Lebens, wie sie auch in den sich nach rechts verschiebenden politischen Zeiten in Westeuropa nötig sind. (td)
Birgit Sauer ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Governance und Geschlecht, Politik der Geschlechterverhältnisse und Politik und Emotionen.