Buchtipp des Monats von Eva Horn
| 03. Dezember 2019Was bedeutet der Begriff "Natur", wenn diese weltweit vom Menschen beeinflusst und geformt wird? Und wie kann sich Politik dieser globalen Problematik stellen? "Im Interview zu ihrem neuen Buch "Anthropozän" geht Eva Horn den wichtigsten Fragen und Herausforderungen nach, die das "Menschzeitalter" aufwirft.
uni:view: In Ihrer kürzlich erschienen Publikation "Anthropozän. Zur Einführung" beleuchten Sie die gleichnamige neue erdgeschichtliche Epoche. Da diese – noch – nicht allen ein Begriff ist, können Sie sie bitte kurz erklären?
Eva Horn: "Anthropozän" ist die Bezeichnung für unser gegenwärtiges Zeitalter, in dem der Mensch das Erdsystem – also Klima, wichtige Stoffkreisläufe, Landschaft, Meere, Wasserzyklen und vieles mehr – fundamental verändert. Derzeit überprüfen GeologInnen, ob sich die Spuren dieser neuen Epoche in den Schichten der Erde nachweisen lassen. Aber die ökologische Diagnose ist schon heute klar: Wir leben in einer fundamental beschädigten Welt.
uni:view: Sie sind Germanistin – was können die Geisteswissenschaften beitragen?
Horn: Diese Beschädigung zu verstehen und zu mindern, ist ein riesiges Forschungsprogramm, nicht nur für die Naturwissenschaften: Es fordert auch die Geistes- und Sozialwissenschaften auf, liebgewordene Kategorien – wie "Geschichte", "Natur und Kultur", "Nachhaltigkeit" und nicht zuletzt den Menschen selbst – neu und anders zu fassen. Schließlich erscheint der Mensch zum ersten Mal in der langen Geschichte der Spezies als Wesen, das den gesamten Planeten gravierend verändert.
Das bedeutet auch, die Geschichte dieses Wesen neu schreiben zu müssen, etwa als eine Geschichte der Umwelteingriffe, des Energieverbrauchs, der Veränderung von Arten und so weiter. Unser Buch fragt gerade nach diesen theoretischen Konsequenzen: Wie müssen wir Gesellschaft, Geschichte oder auch Natur neu und anders denken, wenn der Mensch selbst zu einer Naturgewalt geworden ist?
uni:view: Der Mensch hinterlässt derart gravierende Spuren, dass sie noch in Jahrmillionen sichtbar sein werden. Kann die Einführung des Anthropozäns tatsächlich den Fußabdruck des Menschen abschwächen?
Horn: Natürlich nicht, das ist auch nicht die Intention. Es geht zunächst mal darum, sich überhaupt darüber klarzuwerden, in welcher tiefgreifenden Umbruchssituation wir uns gerade befinden. Das ist eine so neue Herausforderung, dass es schwer ist, einen Überblick über all die Fragen und Probleme zu bekommen, die der neue Begriff aufwirft. Genau das versuchen wir mit unserem Buch. Wir brauchen ein völlig neues Selbstverständnis menschlicher Kulturen und Gesellschaften.
Kultur wurde lange vor allem als Befreiung des Menschen von den Naturgegebenheiten gedacht, Technik als Naturbeherrschung. Aber mittlerweile sind unsere Technologien zu einer eigenen Sphäre geworden, die uns überall umgibt und die Veränderung der Welt immer schneller vorantreibt. Welchen Handlungsspielraum haben wir darin eigentlich noch? Welche ethischen Verpflichtungen haben wir gegenüber kommenden Generationen, aber auch gegenüber anderen Arten? Im Anthropozän müssen wir die Folgen von Technik und Konsum in ganz anderen räumlichen und zeitlichen Skalen denken: nicht mehr als lokales Umweltproblem, sondern als ein globales Geschehen mit kaum absehbaren Langzeitfolgen. Das verschiebt die Rahmenbedingungen für jedes menschliche Handeln.
uni:view: Gibt es Natur in dem Sinne überhaupt noch, wenn sie weltweit derart vom Menschen beeinflusst und geformt ist?
Horn: Das ist ein bisschen spitzfindig. Natur als unberührt und in einem stabilen "natürlichen Gleichgewicht" zu denken, ist zwar eine altehrwürdige, aber leider falsche Idee. Natürlich gibt es Natur, aber Naturschutz alten Stils ist keine Option mehr. Wichtiger ist es vielmehr, Natur als instabil zu verstehen, als "kitzlig", wie die Wissenschaftstheoretikerin Isabelle Stengers es nennt. Nimmt man die Diagnose des Anthropozäns ernst, heißt das vor allem, Gesellschaft und Ökonomie als Faktor im Gefüge des Erdsystems zu verstehen und zu allererst zu fragen: Welche ökologischen Folgen hat das, was ich derzeit mache? Wir müssen lernen, menschliches Handeln als Teil einer Natur zu verstehen, die halt nicht mehr vom Menschen zu trennen ist.
uni:view: Und wie kann sich Politik dieser globalen Problematik stellen?
Horn: Um den ökologischen Eingriff des Menschen abzumildern, brauchen wir konkrete politische Maßnahmen wie Gesetze, Steuern, internationale Abkommen und vieles mehr, aber auch individuelle Entscheidungen für einen ökologisch sinnvolleren Lebensstil, und auch neue und andere Technologien. Das muss so schnell wie möglich passieren. Ökologische Themen müssen als Grundlage aller anderen politischen Fragen verstanden werden. Durch den Aufstand der Kinder und Jugendlichen im Gefolge von Fridays for Future gibt es nun endlich ein öffentliches Bewusstsein für den Klimawandel, der ja seit 30 Jahren bekannt ist. Aber die Sache geht noch tiefer. Wir müssen Politik ganz neu denken: jenseits von nationalen Interessen, jenseits einer Vorstellung von ungebremstem Wachstum, jenseits der Macht von alten Erwachsenen, die sich um die langfristigen Folgen ihrer Entscheidungen keine Gedanken machen.
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:
1 x "Anthropozän zur Einführung" von Eva Horn und Hannes Bergthaller
1 x "Die Wurzeln des Lebens" von Richard Powers
uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Horn: Das Buch, das mich in letzter Zeit am meisten beeindruckt hat, ist Richard Powers Roman "The Overstory" – auf Deutsch erschienen als "Die Wurzeln des Lebens". Ein Buch über Bäume, über die Rolle, die sie im Leben von ganz unterschiedlichen Protagonisten spielen: als Familienerbstück, als schützenswerter, Jahrhunderte alter Redwood, als Forschungsgegenstand, über den wir noch viel zu wenig wissen.
uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Horn: Der Roman erzählt von den verwobenen Schicksalen von Menschen, in deren Leben gewisse Bäume eine entscheidende Rolle spielen. Man lernt aber auch unheimlich viel über Bäume selbst, ihre Verbreitungsformen, wie sie miteinander kommunizieren, man kann sich fragen, ob sie Rechte haben sollten – etwa das Recht eines uralten Baums, nicht einfach für irgendein Bauprojekt zu fallen. Die eigentlichen Helden in diesem Buch sind die Bäume – trotzdem wird es nie langweilig.
uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Horn: Ein besseres Verständnis für die Rolle von Pflanzen. Wir sind viel zu sehr auf Tiere fixiert – aber die Grundlage des Lebens sind Pflanzen. Ohne die Nahrung, die sie allen anderen Lebewesen zur Verfügung stellen gäbe es uns nicht. Wir wissen noch immer viel zu wenig über sie. (td)
Eva Horn ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Sie leitet gemeinsam mit dem Sedimentologen Michael Wagreich von der Uni Wien das kürzlich gegründete Vienna Anthropocene Network.