Buchtipp des Monats von Hanna Hacker
| 11. April 2016Die Geschichte lesbischer Frauen steht im Mittelpunkt von Hanna Hackers Publikation "Frauen und Freundinnen" von 1987. Viel hat sich geändert seit damals – nun hat sie ihr Werk einem spannenden Re-Reading unterzogen. Im Interview erzählt sie mehr, und hat natürlich auch einen Buchtipp parat.
uni:view: Ihre Studie "Frauen und Freundinnen" war zum Zeitpunkt des Erscheinens im Jahr 1987 die erste umfassende Arbeit zur Geschichte lesbischer Frauen im deutschsprachigen Raum. Nun, dreißig Jahre danach, unterziehen Sie Ihren Text einem kritischen Re-Reading. Was ist die Idee dahinter?
Hanna Hacker: Das Buch war eine Art Pionierinnenarbeit mit recht hohem theoretischen Anspruch und einer Fülle an analysierten Quellen, mittlerweile längst vergriffen und in einigen Bibliotheken in Verlust geraten. Die theoretischen Perspektiven aber, aus denen Geschlechterverhältnisse, Sexualitäten, gesellschaftliche Ungleichheiten, grundsätzlich auch Geschichtsschreibung selbst zu begreifen sind, haben sich mittlerweile gewaltig verändert und weiterentwickelt. Meine Re-Lektüre besteht konkret aus neuen Kapiteleinleitungen, Kommentaren und Textüberarbeitungen und versucht eine Einordnung der "damaligen" Forschungsfragen in einen queeren, postkolonialen, anti-ableistischen, intersektionellen Kontext – also in Ansätze, mit denen zu arbeiten ich heute unverzichtbar finde.
uni:view: Ihre ursprüngliche Studie behandelt die Jahre 1870-1938. Gerade lesbische Geschichte spielte sich im Verborgenen ab. Was konnten Sie dennoch herausfinden?
Hacker: Ich hatte mich dafür entschieden, dass "alles" für mein Thema relevant war, was ich an Materialien zur Frauen- und Geschlechtergeschichte finden konnte. In psychiatrischen, juristischen und philosophischen Publikationen, in feministischen Zeitschriften, in Briefen, Tagebüchern und fiktionaler Literatur geht es auch dort, wo das Wort "homosexuell" nicht vorkommt, sehr viel um Fragen der Beziehung zum eigenen Geschlecht, um das umkämpfte Terrain selbstbestimmten Lebens, um normatives und nicht-normatives Begehren, um geschlechterpolitische Strategien … Lesbische Präsenz in der Geschichte erwies sich so als nur in sehr relativem Maß "verborgen" oder verschwiegen. Was ich herausfinden konnte – von medizinischen Definitionen bei Krafft-Ebing und Freud über Freundinnenbeziehungen in der Frauenbewegung um 1900 bis zur skandalträchtigen Subkultur der 1920er –, das füllt mehrere hundert Seiten.
uni:view: In Ihrem aktuellen Re-Reading fragen Sie danach, was "Lesbengeschichte" nach dem Queer Turn bedeuten kann. Können Sie Ihre Erkenntnisse dazu kurz zusammenfassen?
Hacker: Das "L" im aktuell sehr gebräuchlichen Akronym FLIT (Frauen Lesben Inter* Trans*) ist nicht mehr dasselbe L wie jenem feministisch bewegten "Lesbisch", das sich in den 1970er Jahren selbst erfand und zu dem identifikatorisches historisches Forschen mit Begriffsverwendungen wie "unsere Schwestern von gestern" wesentlich dazugehörte. Für mich folgt, dass "Lesbengeschichte" als eine Entdeckung oder Erfindung nicht nur einen Beginn hat – sie kann sozusagen auch wieder zu Ende gehen. Queer betrachtet, ist das Zeichen "lesbisch" auch bei historischen Fragestellungen als fluides, vernetztes, prekäres Moment wahrzunehmen. Die fachliche "Zugehörigkeit" verflüssigt sich ebenfalls ein Stück weit; so werden nicht-normative sexuelle und geschlechtliche Konstellationen gegenwärtig stark von trans*-theoretischen Ansätzen her definiert.
uni:view: Sie haben sich intensiv mit Lesarten "weiblicher Homosexualität" auseinandergesetzt. Was sind für Sie wesentliche Unterschiede zu Lesarten "männlicher Homosexualität"?
Hacker: Männlich markierte Personen, die sich als gleichgeschlechtlich liebend wahrnahmen, machten sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts selbst sichtbar und hörbar, während die Figur der "konträrsexuellen" oder "homosexuellen" Frau nicht als von ihr selbst erforschte, sondern als von männlichen Akteuren beschriebene in die Geschichte eintritt. In den folgenden Jahrzehnten waren die Kämpfe um rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen und das ganze Feld der Organisationsbildung ein weitgehend "männlich" besetzter Handlungsraum. "Männlichkeit" ist ein dominanter Topos auch in der Geschichte lesbischer Frauen. Dazu bildet allerdings die Auseinandersetzung um die "Weiblichkeit" homosexueller Männer nicht einfach das symmetrische Gegenstück, da ja die geschlechtlichen Machtverhältnisse selbst asymmetrisch sind.
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:
1x "Frauen* und Freund_innen. Lesarten 'weiblicher Homosexualität'. Österreich 1870-1938" von Hanna Hacker, 2015, Zaglossus
1x "Weiter als der Himmel" von Pippa Goldschmidt, 2015, Weidle
uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Hacker: Ich empfehle den Roman von Pippa Goldschmidt: "Weiter als der Himmel". Es geht um Astronomie, den akademischen Betrieb, eine Nachwuchswissenschafterin mit (lesbischen) Beziehungstroubles, um die Trauer über den Verlust ihrer als Kind verstorbenen Schwester und um Galaxien, die sich nicht so verhalten, wie sie sollten. Die Autorin, die bislang eine Sammlung Kurzgeschichten veröffentlicht hat, ist selbst promovierte Astrophysikerin.
uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Hacker: Auf der Ebene der beruflichen Realität gibt es einen hohen Wiedererkennungswert, was das universitäre Dasein betrifft, auch für Nicht-NaturwissenschafterInnen: die strukturellen Zwänge, die Seilschaften, der Publikationsdruck … Popkultur-SpezialistInnen haben das Vergnügen, die TV-Soap "Big Bang Theory" assoziieren zu können, die ja selbst ein bisschen Stringtheorie-Wissen vermittelt. Auf der literarischen Ebene finde ich die Anspielung auf den Roman "Gut Symmetries" (1997), deutsch "Das Schwesteruniversum", der vielfach preisgekrönten Schriftstellerin Jeanette Winterson extrem spannend. Auch bei Winterson geht es um Grand Theories und transgressive Leidenschaften; Pippa Goldschmidts Protagonistin heißt übrigens Jeanette.
uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Hacker: Auf jeden Fall die Frage, wie ich die Geschichte auflösen würde – anders nämlich, als die Autorin das tut. Lassen sich Konflikte und Widersprüche, die im Öffentlichen verankert sind, durch Klärung und Harmonisierung im Privaten aufheben, oder umgekehrt? (td)