Buchtipp des Monats von Susanne Blumesberger

Der August-Buchtipp kommt von Susanne Blumesberger, die im Bibliotheks- und Archivwesen der Universität Wien tätig ist. Sie forscht zu Kinder- und Jugendliteratur – einem Genre, das der Germanistin zufolge zu Unrecht nur wenig beachtet wird.

uni:view: Vor kurzem ist Ihre Publikation "Handbuch der österreichischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen" erschienen. Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden?
Susanne Blumesberger: Die Idee ist entstanden, als ich am Institut für Wissenschaft und Kunst beim Projekt "biografiA. datenbank und lexikon österreichischer frauen" mitarbeitete und zugleich durch die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung einen Einblick in diesen für mich spannenden, aber an der Universität Wien noch kaum bearbeiteten, Forschungsbereich erhielt. Das Projekt "biografiA" hat zum Ziel, Frauen sichtbar zu machen, vor allem jene, die trotz wissenschaftlicher und künstlerischer Leistungen stets im Hintergrund geblieben sind. Frauen, die "nur" Kinder- und Jugendliteratur schreiben, wurden oder werden oft nicht als "richtige" Schriftstellerinnen wahrgenommen werden. Da lag es nahe, zu zeigen, welches Potenzial an begabten Schriftstellerinnen Österreich hatte und hat.

Früher galt das Schreiben für viele Frauen als der einzige Weg, künstlerisch tätig zu sein. Das Schreiben für Kinder war zunächst eine Nische, die den Frauen zugestanden wurde. Im Laufe der Recherche für das Handbuch zeigte sich, dass viele Kinder- und Jugendbuchautorinnen aus völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Bereichen kamen. Lehrerinnen verfassten ihr Unterrichtsmaterial selbst, oft weil es nichts Adäquates gab; Wissenschafterinnnen schrieben für Kinder, um ihnen Wissen mitzugeben; und Politikerinnen schrieben bewusst für junge Menschen, um sie für ihre Ziele zu gewinnen. Kinder- und Jugendliteratur ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft, wie auch die Ergebnisse des kürzlich abgeschlossenen Projekts "Angepasst, verdrängt, verfolgt. Österreichische Kinder- und Jugendliteratur in den Jahren 1933 bis 1945. Karriereverläufe im Vergleich" zeigt.

Mit dem eben erschienen Handbuch wollte ich nicht nur zeigen, wie vielfältig sich die kinder- und jugendliterarische Szene in Österreich präsentiert, sondern vor allem auch, wie eng verwoben Literatur für Erwachsene und junge Leserinnen und Leser ist. Viele der als Kinderliteratur bezeichneten Werke sind heute wertvolle literarische Quellen, ein Stück Kulturgeschichte Österreichs.

uni:view: Wie schätzen Sie den Stellenwert von Kinder- und Jugendbuchautorinnen in der österreichischen Gesellschaft ein? Hat dieser eine Wandlung in den letzten Jahrzehnten erfahren?
Susanne Blumesberger: Ich glaube, dass man diese Frage nicht pauschal beantworten kann. Im Handbuch sind Frauen wie etwa Elfriede Gerstl oder Friederike Mayröcker vertreten, die nur gelegentlich einen Ausflug in die Kinder- und Jugendliteratur unternommen haben, Frauen, die während der Zeit des Nationalsozialismus ins Exil gezwungen wurden und dort Kinderliteratur verfassten, weil sie damit Erinnerungen an ihre ursprüngliche Heimat bewahren wollten, wie etwa Hertha Pauli oder Schriftstellerinnen wie Marlen Haushofer, die für Erwachsene und für Kinder schrieb und deren Gesamtwerk oft nicht wahrgenommen wird.

Einige Autorinnen kamen auch über die Illustration zum Schreiben, einige über die eigenen Kinder und Enkel, denen sie ihre Lebensgeschichte erzählen wollten. Viele Frauen erzählten mir, dass sie die AdressatInnen – und schon gar nicht deren jeweiliges Alter – noch gar nicht im Kopf haben, wenn sie Texte verfassen. Die Kinder- und Jugendbuchautorin gibt es also nicht wirklich. Die größte Wandlung der letzten Jahre scheint mir die vielfältige Wahlmöglichkeit zwischen den Medien zu sein. Spannend ist auch die Frage, inwieweit diese Medienvielfalt, wenn wir an das Internet, an multimediale Werke für Kinder denken, eventuell das Schreiben verändert. Das betrifft aber die gesamte literarische Welt ...

uni:view: Was unterscheidet die Texte von Kinder- und Jugendbuchautorinnen von jener ihrer männlichen Kollegen?
Susanne Blumesberger: Auch hier gibt es, glaube ich, keine Antwort, die für alle Fälle passt. Es gab schon in den Anfängen der Kinder- und Jugendliteratur Männer, die für Mädchen schrieben, Frauen, die sich eher "männlichen" Themen annahmen und zum Teil unter männlichen Pseudonymen schrieben – oder aufgrund gesellschaftlicher Zwänge – schreiben mussten. Sieht man sich das Handbuch in seiner Gesamtheit an, sind so gut wie alle Themen in den Werken vertreten, von Puppenkochbüchern bis zu Abenteuerromanen. Ich glaube nicht, dass Leserinnen oder Leser erkennen können, ob das Buch von einer Frau oder von einem Mann geschrieben wurde, bzw. zweifle ich daran, dass es die jungen Leserinnen und Leser interessiert.

Gewinnspiel
 

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung.  

1x "Handbuch der österreichischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen" von Susanne Blumesberger
1x "Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute" von Anna Maria Jokl

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen als Lektüre im August?
Susanne Blumesberger: Ich empfehle den Roman "Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute" von Anna Maria Jokl, der zuletzt 2013 in vierter Auflage bei Suhrkamp erschienen ist.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Susanne Blumesberger:
Das Buch ist aus mehreren Gründen interessant. Anna Maria Jokl, 1911 in Wien geboren, lebte, wie sie selbst mehrmals betonte, sechs Leben. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft musste sie mehrmals emigrieren – ihr Weg führte sie über Prag, Berlin, London und Zürich schließlich nach Jerusalem, wo sie 2001 starb. Sie war unter anderem als Radiopionierin, Journalistin und Schriftstellerin tätig.

"Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute" entstand bereits 1937. Auf ihrer abenteuerlichen Flucht war das Manuskript das einzige Gepäck. Erst 1948 konnte es in Berlin erscheinen. Fast hellsichtig entwirft Anna Maria Jokl ein erzählerisches Szenario, das als Parabel auf die Geschichte Deutschlands nach der Machtergreifung Hitlers gelesen werden kann. Anhand von zwei Schulklassen beschreibt sie die Entstehung einer faschistischen Atmosphäre.

Damit hat Jokl erstmals ein Thema in die Kinder- und Jugendliteratur gebracht, das erst Jahrzehnte später erneut aufgegriffen wurde. Diese bereits 1937 ausgesprochene Warnung vor dem Faschismus ist ebenso spannend, wie ihre ausdrückliche Mehrfachadressierung. Heute gelesen – mit all unserem Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus – wird das Werk zu einem wertvollen historischen Dokument. Marcus H. Rosenmüller hat das Buch neu interpretiert und 2008 in die Kinos gebracht.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Susanne Blumesberger: Es bleibt das Gefühl, dass die Warnung, die Anna Maria Jokl bereits 1937 ausgesprochen hat, leider auch heute noch nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. Ein Kinderroman, der vor allem in der Gegenwart auch – wenn nicht vor allem – von Erwachsenen gelesen werden sollte. (td)