Corona und das Ende der EU?
| 20. April 2020"In der Krise schlägt die Stunde der Nationalstaaten", so Thomas Jaeger. Das ist paradox, denn große Krisen lassen sich nicht unilateral bewältigen. Welche Maßnahmen die Europäische Union im Hintergrund umsetzt, erklärt der Europarechtsexperte im Gastbeitrag.
Ein Virus, das in der EU schon viel länger grassiert als COVID-19, SARS und Konsorten ist die politische Legitimitis: Während der Nationalstaat als Axiom hingenommen wird und auch eine schlechte Performance seiner Amtsträger*innen nicht zur Infragestellung des Staates an sich führt, steht die EU seit jeher unter Legitimationsdruck. Wozu brauchen wir die EU überhaupt, warum tut sie, kann sie, ist sie immer zu wenig, zu langsam, zu bestimmend, zu zaghaft, zu übereilt? Kurzum (frei nach Monty Python): Was haben die Brüssler Bürokrat*innen je für uns getan?
In der Krise schlägt die Stunde der Nationalstaaten. Dies war bei der Wirtschaftskrise und der Flüchtlingskrise der Fall und ist auch bei COVID-19 so: Der Krisenreflex der Staaten ist Unilateralismus statt Kooperation. Paradox ist dies nicht zuletzt deshalb, weil sich große Krisen kaum unilateral bewältigen lassen.
Schmaler Grat zwischen Schutz und Überwachung
Bürger*innen trauen dem Nationalstaat zu, dass er sie beschützt. Die EU nimmt diese Beschützerrolle auch nach über 60 Jahren europäischer Integration nicht ein. Das Vertrauen in den Nationalstaat geht so weit, dass angesichts von COVID-19 Eingriffe in das Privat- und Wirtschaftsleben, die als undenkbar galten, bereitwillig akzeptiert wurden. Diese Eingriffe sind im Kampf gegen die Pandemie effektiv, in Grenzfällen können sie aber auch zur Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat werden, wie etwa die exekutiven Notverordnungsrechte Ungarns oder die Überwachung der Bürger*innen per Standortdaten oder Apps.
Die EU dagegen gibt bei Ausbruch großer Krisen ein trauriges Bild ab: Unilateral agierende Staaten degradieren die europäischen Institutionen zu Statisten, durchaus auch entgegen bestehender EU-Zuständigkeiten und in Widerspruch zu geltendem EU-Recht. COVID-19 unterscheidet sich von früheren Krisen durch zwei Merkmale, die ein gemeinsames Vorgehen auf EU-Ebene erschweren. Erstens rührt COVID-19 an Leib und Leben und trifft Einzelne damit unmittelbarer als die wirtschaftlichen Fragen der Finanzierung von Defiziten oder die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen. Zweitens ist die Gesundheitspolitik ein Bereich mit extrem schwachen EU-Zuständigkeiten, die keine verbindlichen Vorgaben für die Staaten zulassen.
Stand der COVID-19 Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten zum 6.4.2020 (© Europäische Komission/JRC)
Das Ende der EU?
Das gegenwärtige Getöse der Staaten lässt so manchen an der Zukunft der EU zweifeln. Als ich jüngst eine Veranstaltung COVID-19 bedingt absagen und auf 2021 verschieben musste, antwortete mir ein hochrangiger EU-Vertreter: "Ich fürchte, 2021 wird die Union nur in Geschichtsbüchern existieren (…) Es ist erschütternd zu sehen, mit welcher Leichtigkeit alle Grundsätze über Bord geworfen werden und Reflexe aus der Zwischenkriegszeit zum Leben erwachen. Das erste Opfer der Krise ist die Solidarität, dicht gefolgt von den Grundfreiheiten (…) Das wird bleibende Spuren hinterlassen." Die Prognose ist bewusst überspitzt, aber hüten wir uns dennoch, dass sie wahr werden könnte: Ohne die EU ist Europa ein Haufen unterschiedlich temperamentvoller institutioneller Egoisten.
Mit einem raschen Ende der EU zu rechnen, ist dennoch überzogen. Die EU ist für ihre Zerstrittenheit und Langsamkeit ebenso bekannt wie für ihren Pragmatismus, aufgrund dessen sie bisher auch schon manche Krise bewältigt hat. Auch in der COVID-19-Krise tut sich auf EU-Ebene im Hintergrund langsam, aber stetig einiges.
Starke Zuständigkeiten, starke Maßnahmen
Wo die Zuständigkeiten stark sind, gibt es starke Maßnahmen, etwa im Bereich Wirtschaftshilfen. Die Kommission hat ein dreigliedriges Maßnahmenpaket geschaffen, das laufend angepasst wird. Es besteht erstens aus einer Lockerung des rigorosen Wettbewerbsregimes bei staatlichen Beihilfen und erlaubt den Mitgliedstaaten, der Wirtschaft aus eigenen Mitteln enorme Hilfen in Form von Direktzahlungen, Darlehen, Darlehenshaftungen etc. zur Verfügung zu stellen.
Österreich hat davon in den letzten Wochen massiv Gebrauch gemacht. Parallel dazu wurde die Notfallklausel des Euro-Stabilitätspakts aktiviert und die strengen Grenzen für Budgetdefizite der Mitgliedstaaten ausgesetzt. Drittens setzt die EU massiv eigene Mittel für Notfallhilfen ein: Im Rahmen der "Corona Virus Response" werden Milliardenhilfen aus den EU Struktur-, Investitions- und Sozialfonds der EU bereitgestellt. Prominenter Teil daraus ist etwa die 100 Mrd. Euro schwere Initiativ SURE, über die Kurzarbeit in den Mitgliedstaaten mitfinanziert wird. Über 200 Mrd. Euro sollen zudem über die EIB aus dem in der Finanzkrise geschaffenen ESM bereitgestellt werden. Parallel startete etwa auch die EZB ein insgesamt 870 Mrd. Euro schweres Pandemie-Notkaufprogramm für Wertpapiere privater und öffentlicher Emittenten. All das sind noch nicht die vielzitierten Corona-Bonds, sie sind aber ein erster und für alle Seiten tragbarer Kompromiss dahin, Transferzahlungen in besonders schwer getroffene Länder zu leiten. Finanziert wird von der EU auch die Forschung für die Entwicklung von Impfstoffen, neuen Behandlungsmethoden, Diagnosetests und medizinischen Systemen.
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Von neuen familiären Abläufen bis hin zu den Auswirkungen auf Logistikketten: Expert*innen der Universität Wien sprechen über die Konsequenzen des Corona-Virus in unterschiedlichsten Bereichen. (©iXismus/Pixabay)
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Vorgaben für den Grenzverkehr
Zwei weitere Bereiche, in denen die EU starke Maßnahmen setzen kann, sind der Waren- und der Arbeitnehmerverkehr und Teile der Verkehrspolitik. Vor diesem Hintergrund adaptierte die Kommission Ausmaß und Folgen der Grenzschließungen durch die Mitgliedstaaten und machte Vorgaben für die rasche Güterabfertigung und Hygienekontrollen an der Grenze (sog. Green Lanes), für den Grenzverkehr von Pendler*innen in kritischen Berufen, aber etwa auch für die Abfallverbringung und ähnliche für das tägliche Leben wichtige Bereiche, an die man nicht als erstes denkt. Die Grenzschließungen selbst stehen in Einklang mit den Empfehlungen, die die Kommission im Kontext des Schengen-Grenzkontrollsystems ausgegeben hat.
Daneben hat sich die Kommission in zahlreichen Bereichen unterstützend engagiert, etwa über ihren Zivilschutzmechanismus RescEU beim gemeinsamen Einkauf von Schutzausrüstung und medizinischen Notvorräten, bei der Unterstützung von Heimkehrerflügen von EU-Bürger*innen aus Drittstaaten oder bei der wissenschaftlichen Beratung der Mitgliedstaaten. Neben einem neu geschaffenen Beraterstab für COVID-19 im Besonderen bestehen seit vielen Jahren bereits zwei EU-Agenturen für den Arzneimittelsektor und die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (EMA und ECDC).
Einsatz im Hintergrund
Große Krisen sind kleinen Krisen in vielem ähnlich: Brennt ein Haus, kommt mit viel Getöse die Feuerwehr und löscht den Brand. Deren Einsatz setzt im Hintergrund ein funktionierendes System voraus, Finanzierung, Logistik usw. Mitunter entstehen beim Löscheinsatz noch zusätzliche Schäden. Ist der Einsatz vorbei, kehrt wieder Ruhe ein und beginnt der Wiederaufbau.
Dieses Bild beschreibt das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten in größeren Krisen sehr gut: Die Mitgliedstaaten sind gegenwärtig mit der Brandbekämpfung befasst und kümmern sich dabei teils nur wenig um einander und um Kollateralschäden in Bereichen wie Solidarität, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit. Im Hintergrund arbeitet die EU an der Koordinierung und Mäßigung der einzelstaatlichen Maßnahmen und an der Aufrechterhaltung des Systems. Nach der Brandbekämpfung tritt sie wieder sichtbarer in den Vordergrund, wenn es um den Wiederaufbau geht. In dieser Ruhe und Beständigkeit liegt ihre integrationspolitische Kraft: Bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Eurokrise hat die EU eine ebenso gute Figur gemacht wie zuletzt angesichts des Brexit-Saga. Dies führte zuletzt zu Spitzenwerten in der öffentlichen Zustimmung zur EU in den Mitgliedstaaten.
Thomas Jaeger ist Professor für Europarecht an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Europäischen Wirtschaftsrecht, insbesondere Binnenmarkt und Wettbewerb. (© Barbara Mair)