"Es geht um die Menschen und ihre Umwelten"

Der Kultur- und Sozialanthropologe Peter Schweitzer hat 22 Jahre lang in Alaska u.a. die Auswirkungen des Klimawandels untersucht. Im Interview spricht er über den unterschiedlichen Umgang in Österreich und Alaska sowie über die Idee der Klimarettung als Form menschlicher Überschätzung.

uni:view: Herr Schweitzer, was interessiert Sie als Kultur- und Sozialanthropologe am Klima und seinem Wandel?
Peter Schweitzer:
Durch die Semesterfrage "Wie retten wir unser Klima?" wird suggeriert, dass wir Menschen bereit sind, für die Erhaltung der uns aus der jüngeren Vergangenheit bekannten Klimaverhältnisse unsere gegenwärtigen Alltagsgewohnheiten – von der Ernährung bis zur Fortbewegung – zu ändern. Es geht also darum, durch Veränderung das Bestehende zu bewahren.
Gleichzeitig ist das, was wir bewahren oder "retten" wollen, nämlich das Klima, eine abstrakte Größe.
 
Beim Klimawandel-Diskurs geht es immer auch um das Verhältnis von global und lokal. Es geht um sogenannte globale Klimawandelprozesse, die sich aber lokal unterschiedlich manifestieren. Die Art und Weise, wie wir diese Manifestationen erleben, hängt jedoch auch sehr stark davon ab, inwieweit unsere Lebensweisen den täglichen Kontakt mit der natürlichen Umwelt ermöglichen bzw. erfordern. Wenn ich in einer hochindustrialisierten Gesellschaft wie in Österreich lebe, mit der U-Bahn ins Büro fahre und dort von 9 bis 17 Uhr sitze, dann spüre ich das Wetter in meinem Alltagsleben weniger als beispielsweise eine Reisbäuerin in Asien oder ein Jäger in Alaska.

Mich interessiert besonders, wie verschiedene Gruppen auf der Welt, und damit meine ich nicht homogen DIE Inuit oder DIE ÖsterreicherInnen, sondern einzelne Gruppierungen, mit dem Wort "Klimawandel" und den dahinterliegenden Implikationen umgehen. Es geht dabei um unterschiedliche wirtschaftliche und politische Interessen von Gruppen und Staaten genauso wie um divergierende religiöse und weltanschauliche Erklärungsmodelle und kulturelle Traditionen.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Im Sommersemester 2018 lautet sie "Wie retten wir unser Klima?" Die Abschlussveranstaltung dazu fand am Montag, 11. Juni 2018, statt: Unter dem Titel "Herausforderung Klimawandel" hielt der Meteorologe Mojib Latif einen Vortrag am Uni Wien Campus. Zur Nachlese

uni:view: Sie haben frühzeitig die Auswirkungen des Klimawandels am Polarkreis erforscht. Was hat damals Ihr Interesse an dem Thema geweckt?
Schweitzer:
Als ich 1991 im Rahmen einer Gastprofessur an die University of Alaska Fairbanks (UAF) ging, kannte ich das Wort "Klimawandel" noch gar nicht. Ich lernte es aber sehr bald kennen. Während in Europa damals kaum über das Thema gesprochen wurde, kam es in Alaska bereits in den 1990er Jahren zu den ersten Versuchen interdisziplinärer Klimawandelforschung, die auch für die Kultur- und Sozialanthropologie neue Betätigungsfelder schuf. Ich habe mich hier frühzeitig engagiert, zunächst durch ein ethnohistorisches Projekt, bei dem wir alte russische Reiseberichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert nach Wetterinformationen durchforstet haben. Seit Anfang der 2000er Jahre haben wir begonnen, in lokalen Communities die Auswirkungen auf die Lebensweisen der Menschen zu erforschen.

2004 folgte ein Projekt, das sich mehr auf die Folgen des Klimawandels, konkret auf den Wasserhaushalt konzentrierte. Wasser ist ein zentraler Punkt: Wenn der Wasserstand zu niedrig ist, können die Menschen nicht mehr mit dem Boot flussaufwärts fahren, um zu jagen. Steigt die Temperatur des Wassers, führt das zur Ansiedlung neuer Lebewesen, die wiederum Krankheitserreger ins Trinkwasser bringen etc. Mir wurde im Laufe der Zeit immer stärker bewusst, dass der Klimawandel sowohl ein "natürliches" als auch ein soziales Phänomen ist. Das heißt, dass der Diskurs über den Klimawandel genauso Realitäten schafft wie ein ausgetrockneter Fluss.

uni:view: 2012 kamen Sie von Alaska zurück an die Universität Wien, als Professor an das Institut für Kultur- und Sozialanthropologie. Wird in der hiesigen Wissenschaft anders mit dem Thema "Klimawandel" umgegangen als in Alaska?
Schweitzer:
Der wohl größte Unterschied sind die Dimensionen. Ich war in Alaska an einer kleinen Universität tätig. Daher konnte man die Natur- und SozialwissenschafterInnen, die sich intensiv mit dem Klimawandel beschäftigen, in einem Raum zusammenbringen. An der Universität Wien ist dies auf Grund ihrer Größe und Vielfalt schwer möglich. In Österreich sind die Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften – allein schon durch die räumliche Aufteilung – stärker getrennt. Zwar gibt es Initiativen wie den Forschungsverbund Umwelt, die das etwas aufweichen, aber insgesamt ist es weniger interdisziplinär.

Der 2014 gegründete Forschungsverbund Umwelt der Universität Wien hat das Ziel, WissenschafterInnen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zu vernetzen, die Zusammenarbeit zu umweltrelevanten Fragen zu fördern und die Umweltforschung nach innen und außen sichtbarer zu machen. Mehr Informationen

uni:view: Was unterscheidet den österreichischen Umgang mit dem Klimawandel von dem in Alaska?
Schweitzer:
In Österreich kommt mir die Debatte oft sehr religiös motiviert vor: Wir müssen das Klima und somit die Welt retten. Da schwingen starke moralische Implikationen mit. Natürlich wäre es sinnvoll, nicht mehr mit dem Auto zu fahren oder kein Fleisch mehr zu essen: der globale Norden, die "Erste Welt", verbraucht zu viele Ressourcen, das wissen wir alle.

In Alaska hingegen hatte ich nicht das Gefühl, dass die Menschen den Drang haben, die Welt retten zu müssen. Dort und in den restlichen USA sind die sozialen und ökonomischen Bedingungen in indigenen Dörfern oft miserabel. Die Gemeinden müssen also um Aufmerksamkeit und Geldzuwendungen kämpfen. Viele haben verstanden, dass der Klimawandel eine Chance dazu ist.

uni:view: Dann trifft unsere Semesterfrage "Wie retten wir unser Klima?"  sicherlich genau Ihren Geschmack. Was sagen Sie dazu?
Schweitzer:
Die Vorstellung, dass wir Menschen das Klima retten sollen, ist eigenartig. Ist das nicht dieselbe Form menschlicher Überschätzung, die uns dazu geführt hat, die Auswirkungen unseres Handelns auf das Klima über Jahrzehnte und Jahrhunderte zu negieren? Gleichzeitig geht es ja nicht um das Klima, das nicht mehr als eine Abstraktion ist, sondern um uns Menschen und die Umwelten, in denen wir leben. Wir können durch unser Verhalten sicherlich die Geschwindigkeit mancher Prozesse beeinflussen und das Bewusstsein für den menschgemachten Klimawandel kann Positives in Richtung Umweltschutz, alternative Energieformen etc. bewirken. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig festzuhalten, dass die Halbinsel Europa nicht mehr der Nabel der Welt ist, auch nicht was "Klimasünden" betrifft. China hat vor einigen Jahren die USA in dieser Hinsicht überholt und daher werden Peking, Mexico City oder Lagos in der Zukunft viel wichtiger für globale Klimaprozesse sein als Wien oder Frankfurt.

uni:view: Was macht den Klimawandel für Sie als Wissenschafter dann überhaupt so interessant?
Schweitzer:
Als Wissenschafter bin ich weder für noch gegen den Klimawandel. Gleichzeitig ist der Klimawandel ein Phänomen, dass uns als BürgerInnen alle betrifft, weswegen wir uns damit auch wissenschaftlich auseinandersetzen müssen. Es gibt einen weitgehenden Konsens, dass ein Großteil dessen, was heutzutage als Klimawandel bezeichnet wird, durch die menschlichen Aktivitäten der letzten 200 Jahre bedingt ist. Das bedeutet aber nicht, dass "KlimaskeptikerInnen" notwendigerweise finstere Gestalten im Sold der Großindustrie sind. Es gibt in vielen Gegenden der Welt Leute, die aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen die Welt nicht allein von Menschen gelenkt sehen. In anderen Worten, der globale Klimawandel ist ein in jeglicher Hinsicht fundamentales Problem, das nicht allein der Wissenschaft "gehört".

Trotz meiner Kritik an unserer menschlichen Überheblichkeit bin ich nicht völlig pessimistisch, was die Erfindungsgabe der Menschheit betrifft. Ich würde per se nicht ausschließen, dass es Technologien geben wird, die Klimawandelprozesse neutralisieren oder rückgängig machen können. Die Menschheit schafft es schon lange, auf diesem Planeten zu überleben, und ich bin vorsichtig-optimistisch, dass wir das noch eine Zeit lang weiter schaffen können.
 
uni:view: Vielen Dank für das Interview! (mw)

Peter Schweitzer war von 1991 bis 2012 zunächst Assistenzprofessor und später Professor am Department of Anthropology der University of Alaska Fairbanks (UAF). Seit 2012 ist er Professor für Materielle Kultur und Konsumtion (Kultur- und Sozialanthropologie) an der Universität Wien. Seit 2016 leitet er das Austrian Polar Research Institute (APRI) und ist Konsortiumsleiter bei einem  internationalen Projekt, das sich mit den Herausforderungen auftauender Dauerfrostböden in den Küstengebieten der Arktis auseinandersetzt. Er forscht vor allem zu den Themen des Verhältnisses zwischen Menschen und ihrer Umwelt, inklusive der gebauten Umwelt und Infrastruktur, sowie zu Fragen von Kultur, Identität und Mobilität.