Forscher*innen für Ausrufung von "Artenvielfalt-Notstand"

Rotkehlchen

Angesichts der "drastischen Abnahme der Vielfalt der Arten und Lebensräume in Österreich" fordert der Österreichische Biodiversitätsrat, dem auch Forscher*innen der Uni Wien angehören, die Ausrufung eines "Artenvielfalt-Notstands" sowie weitere prioritäre politische Maßnahmen, u.a. einen Stopp des Biodiversitätsverlust als nationales Ziel.

In Österreich sind rund 47.000 Tier- und etwa 5.000 Pflanzenarten heimisch –es ist aufgrund seiner hohen landschaftlichen Vielfalt das artenreichste Land Mitteleuropas. Doch es gebe einen "dramatischen Rückgang der Artenvielfalt", so Franz Essl, Biodiversitätsforscher an der Universität Wien und Mitglied des Leitungsteams in dem von renommierten Wissenschafter*innen gegründeten Biodiversitätsrat.

Als Beispiel verweist er auf Daten der Vogelschutzorganisation Birdlife: In nur 20 Jahren sind 42 Prozent der Brutvögel in der heimischen Kulturlandschaft verloren gegangen und jede dritte Art steht auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Auch dem Umweltbundesamt zufolge befinden sich rund 80 Prozent der im Rahmen des Naturschutzabkommens "Natura 2000" zu schützenden Arten und Lebensräume in einem "ungünstigen Erhaltungszustand".

Bewusstsein für die Biodiversitätskrise

Während die Klimakrise in der Bevölkerung angekommen sei, fehle für die Biodiversitätskrise noch das Bewusstsein, begründet der Zoologe Christian Sturmbauer von der Universität Graz die Gründung des Biodiversitätsrats, dem seitens der Universität Wien auch die Politikwissenschafterin und ERC-Preisträgerin Alice Vadrot angehört. Weil die derzeitigen Zielsetzungen, Strategien und Gegenmaßnahmen bei weitem nicht ausreichten, um Österreichs Artenvielfalt für die nächsten Generationen zu erhalten, hat das unabhängige Gremium fünf Kernforderungen formuliert.

Die Forderungen wollen sie bei einer Tagung in Wien veröffentlichen und auch den Koalitionsverhandler*innen zur Verfügung stellen. Dazu zählen ein milliardenschwerer Biodiversitätsfonds zur Finanzierung konkreter Schutzmaßnahmen und die Aufnahme eines nationalen Ziels, den Biodiversitätsverlusts bis spätestens 2030 zu stoppen, als Priorität im Regierungsübereinkommen.

"Symbolischer, aber wichtiger Schritt"


Das Gremium fordert den Nationalrat auf, ebenso wie die Klimakrise auch die Biodiversitätskrise anzuerkennen und den "Biodiversitäts-Notstand" zu erklären. "Das ist ein symbolischer, aber wichtiger Schritt, mit dem das Phänomen und die Tatsache anerkannt werden, dass die derzeit gesetzten Maßnahmen nicht ausreichen, um diese Krise zu bewältigen", sagt Essl. Zur Finanzierung konkreter Schutzmaßnahmen für die Artenvielfalt sollte ein mit einer Milliarde Euro dotierter Biodiversitätsfonds eingerichtet werden.

EVENT-TIPP: Podiumsdiskussion zur Semesterfrage

Am Montag, 13. Jänner 2020, findet im Großen Festsaal der Universität Wien die Abschlussveranstaltung zur Semesterfrage "Wie schützen wir die Artenvielfalt?" statt. Katrin Böhning-Gaese hält den Impulsvortrag und diskutiert mit Franz Essl, Alice Vadrot, Luc Bas und Kathi Schneider unter der Moderation von Martin Kotynek (DerStandard).

Österreich hält Verpflichtungen nicht ein

Österreich halte die europäischen und internationalen Verpflichtungen zum Schutz der Biodiversität nicht ein, kritisierte die Politikwissenschafterin Alice Vadrot von der Universität Wien, und nannte als Beispiel mehrere im Raum stehende Klagen gegen das Land wegen Nichteinhaltung von "Natura 2000-Verpflichtungen". Deshalb sollte eine "Biodiversitätsstrategie 2030" erarbeitet und umgesetzt sowie die Einhaltung internationaler Schutzabkommen regelmäßig überprüft werden. Um zu einer "naturverträglichen Gesellschaft" zu werden, fordern die Wissenschafter*innen zudem die Schaffung eines Bundesrahmennaturschutzgesetzes statt der derzeitigen Länderzuständigkeit bei Naturschutz und eine "sozial-ökologische Steuerreform, mit der Klima- und Biodiversitätsschutz gemeinsam und gleichrangig umgesetzt werden".

Neben der verstärkten Bildung in Schulen und Hochschulen zu dem Thema solle es ein nationales Biodiversitäts-Forschungsprogramm nach dem Vorbild des Klima- und Energiefonds geben. Denn derzeit sei eine Finanzierung für Langzeitprojekte kaum möglich, so Sturmbauer.

Intensive Landnutzung

Er verweist auch auf die intensive Landnutzung in Österreich, wo täglich zwölf Hektar zubetoniert werden: "Österreich geht mit seinen Ressourcen noch so um, als gebe es kein Morgen." Deshalb fordert der Biodiversitätsrat eine Reduktion des Flächenverbrauchs durch Verbauung auf maximal 2,5 Hektar (2025) und ein Hektar (2030) pro Tag. In jeder Gemeinde Österreichs sollten mindestens zehn Prozent Biodiversitätsförderungsflächen in Kulturland und Wald gesichert bzw. aufgebaut werden.

Die Folgen des Artensterbens seien "indirekt und komplex, haben aber in Summe das Potenzial, die gesellschaftlichen Fundamente zu untergraben", betont Essl: "Intakte Ökosysteme sind wie Sicherheitsnetze für das Funktionieren der Gesellschaft, etwa zur Sicherung der Nahrungsmittelproduktion oder zum Schutz vor Naturgefahren." Zudem könne Klimaschutz nur gemeinsam mit intakten Ökosystemen funktionieren, da diese Kohlenstoff speichern, aber auch Klimaveränderungen abpuffern können. (APA/red)