Hegel – Denker der Freiheit

Das Wort Hegel in Stein gemeißelt

Am 27. August 2020 jährt sich der Geburtstag des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Mal. Bis heute gehört Hegel zu den meistzitierten Autor*innen. Das ist insofern erstaunlich, als seine Hauptwerke zu den schwierigsten philosophischen Schriften gehören, die jemals geschrieben wurden.

Hegels Wirken erlebte seinen Höhepunkt in Berlin, wo er 1831 als berühmter, aber zunehmend kritisierter Philosoph starb. Er galt als letzter Systemdenker, der versuchte, alle Bereiche unserer Welt — Natur, Kunst, Religion, Philosophie, Gesellschaft und Geschichte — gedanklich zu durchdringen und ein allgemein gültiges Wissensfundament über die Funktionsweise des Seins zu gewinnen, welches in seiner Totalität in einem zugrundeliegenden Logos (Geist) gründete. 

Symbol geschlossenen Denkens

Darüber hinaus wurde er als preußischer Staatsphilosoph betrachtet, der die dortigen Institutionen als Maßstab für die ganze Welt ansah – ignorierend, dass Hegel die autoritären Tendenzen Preußens kritisch betrachtete. Nach seinem Tod bildeten sich Schulen, die je nach Stellung zur Religion als rechts- und linkshegelianisch kategorisiert wurden. Der bedeutendste Hegelrezipient des 19. Jahrhunderts war Marx, der seinen dialektischen Materialismus in Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik entwickelte. Im 20. Jahrhundert wurde Hegels Philosophie zum Symbol eines in sich geschlossenen Denkens, von dem man sich abzugrenzen versuchte. 

Renaissance des Hegelschen Denkens

Umso erstaunlicher ist die Renaissance, die das Hegelsche Denken in den letzten Jahren erfährt: Sowohl in der gegenwärtigen analytischen als auch in der aktuellen kontinentalphilosophischen Philosophie spielt Hegel eine zentrale Rolle: Ganz unterschiedliche Philosoph*innen wie Žižek, Malabou, Buck-Morss, Butler, Fukuyama, Lilla oder Brandom beziehen sich auf sein Werk. Dazu beigetragen hat die mittlerweile global geführte Auseinandersetzung um die Selbstbestimmung des Subjekts und die Frage nach einer Sinngebung der Geschichte angesichts von Bedrohungsszenarien, die die Weltordnung fundamental in Frage stellen. 

Narrativ der Freiheit

Im Zentrum der Hegelschen Philosophie steht ein philosophischer Narrativ der Freiheit. Der Freiheitsgedanke ist dabei nicht auf die Handlungsfreiheit des Subjekts oder dessen Möglichkeit des unbeschränkten Konsums zu reduzieren: Vielmehr besteht er darin, selbstbestimmt allgemein gültige Handlungen zu setzen und Teil eines umfassenden kreativen Prozesses zu werden, der sich in Kunst, Religion und Wissenschaft zum Ausdruck bringt und entsprechende politische und ökonomische Rahmenbedingungen erfordert. Hegel war der Auffassung, dass Freiheit mit einem individuellen und kollektiven Selbsterkenntnisprozess einhergeht, dabei aber nicht auf die menschliche Sphäre reduziert werden kann, sondern sich bereits in biologischen und physikalischen Abläufen manifestiert, was eine holistische Weltsicht erfordert.

Instrumentarium an Denkbestimmungen

Zentrales Moment der Hegelschen Methodik ist die Dialektik, die versucht, Beziehungsgefüge in ihren Transformationen und darin auftretende Widersprüchlichkeiten und Diskontinuitäten zu denken. Entscheidend dabei ist der Prozess der Negation: Jede Bestimmung ergibt sich aus der Negation der anderen Bestimmungen, wobei sich die dabei auftretende Negation auch gegen sich selbst, d.h. gegen die jede Bestimmung konstituierenden Abgrenzungen, richtet und damit eine fundamentale Offenheit bewahrt. Daher ist die doppelte Negation keine Bewegung hin zu immer neuen Synthesen, vielmehr versucht sie Prozesse in ihren Dynamiken zu denken. Dieser offene Charakter des Hegelschen Systems, verbunden mit einem reichhaltigen Instrumentarium an Denkbestimmungen, wird gegenwärtig in Philosophie, Soziologie, Politologie, Theologie und Geschichtswissenschaft neu entdeckt.

Hegels Denken vereinigt viele Widersprüche

Hegels Philosophie, die einen ständigen Übersetzungsprozess erfordert, ist nach Ansicht vieler zeitgenössischer Denker*innen dazu geeignet, interkulturell geprägte Gesellschaften, in denen Übersetzungen fundamentale Bedeutung zukommt, geistig zu erfassen. Ein neu zu entdeckender und zu reformulierender Bereich des Hegelschen Denkens ist dessen Naturphilosophie, da in ihr Trennungen des 19. Jahrhunderts von Materie und Geist, Natur und Freiheit, Gesetz und Zufall hinter sich gelassen wurden. Wichtig bleibt dabei der Umstand, dass Hegels Geist- und Subjektbegriff nicht aus einer objekthaft verstandenen Welt ableitbar sind.

Hegels Denken vereinigt viele Widersprüche in sich: Der Idealist Hegel kann ebenso als materialistischer Denker angesehen werden, der holistische Systemphilosoph steht für eine radikale Offenheit des Seins, in dem auch Brüche und Diskontinuitäten Platz haben und Hegels Geistkonzeption lässt Raum für theistische, atheistische und pantheistische Deutungen.

Standort Wien

Zum Abschluss sei noch die Bemerkung angebracht, dass der Standort Wien seit Jahrzehnten bedeutend für die Hegelforschung ist und die Universität Wien die dafür notwendigen Freiräume zur Verfügung stellt. Stellvertretend für viele an der Hegelforschung beteiligte Philosoph*innen soll Herta Nagl-Docekal (Professorin für Philosophie an der Universität Wien 1985-2009) genannt sein, die nicht zuletzt aufgrund umfassender Kenntnis Hegelscher Kategorien den feministischen und geschichtsphilosophischen Diskurs international mitbestimmt hat.

Kurt Appel ist Professor für Theologische Grundlagenforschung am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Katholisch-Theologischen Fakultät sowie Sprecher der Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary Society" an der Uni Wien. Zu seinen Schwerpunkten, in deren Rahmen er sich auch immer wieder mit Hegel auseinandersetzt, gehören u.a. Theologie als Gesellschaftskritik und Denken im Ausgang des Deutschen Idealismus. (© RaT)