Schulkarriere trotz Corona: "Die Krise nutzen"
| 16. April 2020Wie wirkt sich das Corona-Jahr auf die Schulleistungen aus? Manfred Prenzel, Leiter des Zentrums für LehrerInnenbildung an der Uni Wien und "Vater" der deutschen PISA-Studie, ist optimistisch: Die aktuell geschulten Selbstlernkompetenzen bleiben fürs Leben.
uni:view: Österreichs Schüler*innen befinden sich seit einigen Wochen im home-schooling. Worin liegen aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen?
Manfred Prenzel: Aus Lehr-Lern-Sicht unterstützt die Schule vor allem die Lernorganisation und die Lernkoordination. Den Schüler*innen werden Materialien, Medien und soziale Arbeitsformen angeboten, damit sie gesteckte Lernziele erreichen können. Die Schule gibt aber auch Lernzeiten vor und bietet Raum und Ruhe, um sich auf die Inhalte zu konzentrieren. Diese beiden Funktionen sind in der aktuellen Situation stark beeinträchtigt und müssen von den Schüler*innen selbst "geregelt" werden. Zu kurz kommt momentan natürlich auch der soziale Austausch: Laut denken, andere anhören, sich ausdrücken oder diskutieren – auf dieser Ebene finden wichtige Prozesse des Lernens statt, die mediengestützt nur bedingt ersetzt werden können.
uni:view: Wie können Lehrende ihre Schüler*innen im home-schooling unterstützen?
Prenzel: Helfen können Skripts und kleine Drehbücher, die Lernfenster, konkrete Aufgaben, aber auch Pausen aufgeben und damit eine Struktur im Tagesablauf schaffen. Die anstehende Matura, aber auch andere Abschlussprüfungen sind für Schüler*innen wichtige Ereignisse in ihrer Biografie – da sorgt die aktuelle Situation natürlich für gewaltige Irritation. Auch hier sind die Lehrkräfte gefragt: Lernende brauchen Materialien, anhand derer sie nicht nur Stoff wiederholen, sondern auch ihre eigenen Lernfortschritte überprüfen und ihre Leistungen realistisch einschätzen können.
uni:view: Auf die aktuelle Situation kann kein Lehrbuch vorbereiten. Auf welche Tools, die während des Studiums vermittelt wurden, können Ihre Absolvent*innen dennoch zurückgreifen?
Prenzel: Die Situation ist auch für Lehrende ungewohnt, jedoch spielte das Thema Selbstlernen und die Vermittlung von Lernstrategien im Lehramtsstudium an der Uni Wien auch vor der Corona-Krise eine große Rolle. Wir nehmen außerdem wahr, dass die Studierenden mit Apps und softwarebasiertem Lernen bestens vertraut sind – im Studium vermitteln wir, wie diese auch zielorientiert und sinnvoll eingesetzt werden können.
uni:view: Eine aktuelle Panel Umfrage zeigt, dass 20 Prozent der Kinder in Österreich auf beengtem Wohnraum leben. Wie sollen jene Schüler*innen das Lernen "selbst in die Hand nehmen", anders gefragt: Verstärkt das home-schooling soziale Ungleichheiten?
Prenzel: Ja. Dieses Problem zeigt sich übrigens auch schon nach den Sommerferien, die alle Schüler*innen anders verbracht haben bzw. daheim mehr oder weniger gefördert wurden. Die Möglichkeiten, diese Ungleichheit zu kompensieren, sind leider sehr begrenzt. Lehrkräfte sind in diesen Fällen gefordert, individuelle Lernberatungen anzubieten und die Lernenden aktiv anzusprechen, ihnen zu versichern, dass es nicht egal ist, was sie in der Zeit des home-schooling machen bzw. nicht machen.
uni:view: Die Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 wurden kürzlich gelockert. Wie lauten Ihre Empfehlungen zum schrittweisen Wiederhochfahren des Schulbetriebes?
Prenzel: Die Leopoldina in Deutschland hat kürzlich eine Ad-hoc-Stellungnahme zum Thema Corona und Gesellschaft veröffentlicht, an der ich mitgewirkt habe. Hier wird davon ausgegangen, dass ältere Schüler*innen am besten in der Lage sind, ihr Lernen selbst zu organisieren. Deshalb könnte dort am ehesten auf Präsenzunterricht verzichtet werden. Allerdings würde ich das Bilden fester Lerngruppen (z.B. mit vier Schüler*innen) empfehlen, die sich abstimmen und gemeinsam Verantwortung für das Lernen in allen Fächern tragen und von den Fachlehrkräften unterstützt werden.
Für die Sekundarschulen würde ich eine abgestufte Rückkehr zu Präsenzunterricht sinnvoll finden, der zunächst dafür genutzt wird, das home-learning besser vorzubereiten, anzuleiten und Rückmeldungen zu geben. Dieser Unterricht könnte dann ggf. weiter ausgedehnt werden. Sobald sich aufgrund der Infektionslage Spielräume abzeichnen, würde ich diese für die Schüler*innen der Primarstufe nutzen. Jene brauchen die meiste Anleitung und Eltern sind stärker auf die Betreuungsleistungen der Schulen angewiesen. Auch hier könnte zunächst in der 4. Klasse mit reduzierter Unterrichtszeit und kleinen Lerngruppen begonnen werden. Wenn das gut funktioniert, ist an eine Ausweitung des Präsenzunterrichts auch für weitere Schulstufen zu denken.
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uni:view: Sie haben in Deutschland die PISA-Studie geleitet und kennen sich mit Schulleistungsuntersuchungen aus. Wie wird sich das Corona-Jahr 2020 auf die Schulleistungen auswirken?
Prenzel: Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass vieles von dem, was in einem Schuljahr gelernt wurde, nach einem Jahr nicht mehr gekonnt wird. Nun sind nicht alle Details wichtig, wohl aber das Verstehen grundlegender Begriffe und das Beherrschen wichtiger Fertigkeiten. Deshalb würde ich die jetzigen besonderen Bedingungen von home-learning vor allem dazu nutzen, um Basics zu stärken und Wissen zu konsolidieren. Die Krise kann meiner Meinung nach auch positiv genutzt werden: Wenn es gelingt, die Selbstlernkompetenzen der Schüler*innen zu stärken – dann hätten die Lernenden viel für ihr Leben gelernt. Um "verpassten" Stoff würde ich mich so weniger sorgen.
uni:view: Welche Aspekte des aktuellen Unterrichtens könnten auch in Zukunft Anwendung finden? Was bleibt von diesem unfreiwilligen Digitalisierungs-Crashkurs?
Prenzel: Aktuell werden uns die vielen Möglichkeiten, aber auch Grenzen digitaler Tools bewusst, Stichwort: Datenschutz, aber auch soziales Lernen, wie bereits erwähnt. Wir werden in Zukunft ganz bestimmt mehr mediengestützte Lehr-Lernformate – auch integriert in den Präsenzunterricht – sehen. Meine Bilanz ist daher gar nicht so schlecht. Wir können die Chancen der Krise wahrnehmen und von einer Weiterentwicklung in puncto Vermittlung profitieren.
uni:view: Danke für das Gespräch! (hm)
Manfred Prenzel ist seit April 2018 Professor für Empirische Bildungsforschung am Institut für LehrerInnenbildung, zudem leitet er das Zentrum für LehrerInnenbildung. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Lernprozesse, Bildungsmonitoring, Internationale Schulleistungsvergleiche, Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung. (© facesbyfrank)