"Sie spielen nicht einfach, sie tanzen mit dem Ball"

Eine Brasilienreise hatte ihr Leben verändert: Ethnomusikologin Regine Allgayer-Kaufmann forscht schwerpunktmäßig zur Musik Brasiliens. Im Interview erzählt sie über ihre Faszination für das Land, analysiert den offiziellen WM-Song und kritisiert den europäischen Umgang mit Brasilien.

uni:view: Als Sie als Ethnomusikologin mit regionalem Schwerpunkt Brasilien erfahren haben, dass die Fußball-WM in Brasilien stattfinden wird – was haben Sie sich im ersten Moment gedacht?
Regine Allgayer-Kaufmann: Meine erste Reaktion war natürlich: Das passt ausgezeichnet. Man sagt, dass die Art und Weise, wie die Brasilianer Fußball spielen, mit dem zu tun hat, wie sie mit dem eigenen Körper umgehen. Es heißt, sie spielen nicht einfach Fußball, sie tanzen mit dem Ball. Ich habe mir das oft im Fernsehen angeschaut und erlebt, was in Brasilien los ist, wenn ein Fußballspiel stattfindet. Die Begeisterung für dieses Spiel geht durch die ganze Bevölkerung – das ist immer ein großes Fest.

uni:view: Und wenn die Heimmannschaft verliert?
Allgayer-Kaufmann: Da habe ich einmal eine interessante Erfahrung gemacht: Bei der WM 2006 war ich zufällig gerade in Brasilien, in Parintins, einer kleinen Stadt am Amazonas, und hatte mir gemeinsam mit Einheimischen ein Spiel angeschaut. Als Brasilien verlor, habe ich zum ersten Mal erlebt, dass das eine richtige Depression verursachen kann. Es war mitten am Nachmittag, aber die Leute haben verkündet, sie gingen jetzt ins Bett. Kurz zuvor waren sie noch mit Fahnen durch die Stadt gezogen und dann war es plötzlich ganz still. Das ganze Bier, das bereit stand, hat niemand getrunken. Da hatte ich schon das Gefühl, das geht ganz tief.

uni:view: Wenn man WissenschafterInnen fragt, wie sie zu ihrem Forschungsbereich gekommen sind, hört man ganz oft: Das hat sich so ergeben. War das bei Ihnen auch so oder gibt es eine Geschichte dahinter, dass sie sich gerade mit Brasilien beschäftigen?
Allgayer-Kaufmann: Bei mir war es tatsächlich so, dass meine erste Reise nach Brasilien mich so beflügelt und eingenommen hat für die brasilianische Kultur, dass ich darüber nachdachte, wie ich daraus einen Beruf machen könnte. Ich war damals Musiklehrerin an einer Schule und bin von einer Urlaubsreise nach Brasilien derart begeistert zurückgekommen – von der brasilianischen Musik und den Menschen, der Offenheit und der Art und Weise, wie sie sich Fremden zuwenden – dass ich beschloss, Musikwissenschaft zu studieren. Hier kam ich in Kontakt mit dem Fach der Ethnomusikologie, habe total Feuer gefangen und mich darauf gestürzt – mit dem Ziel, in Brasilien zu forschen. Ich hab das nie bereut und es hat mich auch nicht mehr losgelassen.

uni:view: Wie schafft man es, in Wien einer großen Gruppe von Studierenden ein geografisch so weit entferntes Thema wie brasilianische Musik näher zu bringen?
Allgayer-Kaufmann: Es ist eigentlich nicht so schwierig, wie man denken könnte. Die Studierenden möchten über den eigenen Tellerrand blicken – Musik ist wichtig in ihrem Leben, und sie wollen einfach wissen, wie das in der Welt ausschaut. Genau auf diesem komparatistischen Aspekt basiert ja auch die Grundlagenforschung im Bereich der Musikwissenschaft: Wenn man überlegt, was ein Rhythmus, was ein Metrum ist, was es für Konzepte gibt, um Zeitstrukturen in der Musik aufzubauen, dann ist einfach der Vergleich mit anderen Kulturen total spannend – abgesehen von der Faszination der Musik per se. In Brasilien kann man beobachten, dass die Menschen sehr direkt und intensiv auf Musik reagieren.

Beim Abschiedsfest einer Studierendenexkursion nach Brasilien haben drei Musiker alte Sambas gespielt. BrasilianerInnen würden bei so einer Musik immer sofort aufspringen und tanzen, aber unsere Studierenden blieben zwei Stunden lang sitzen und tranken einen Caipirinha nach dem anderen. Die Musiker dachten, uns gefällt die Musik nicht, weil niemand tanzt, dabei hat sich herausgestellt, dass die Musik total gepasst und gefallen hat, aber irgendwie die Gewohnheit eine andere ist. Man springt nicht einfach auf und tanzt.

uni:view: Machen Sie das mittlerweile – einfach aufspringen und tanzen?
Allgayer-Kaufmann: Oh ja, ich denke schon, ich lasse mich mehr mitreißen. Das habe ich in Brasilien für mich entdeckt. Ich bin trotzdem die geblieben, die ich immer war, ich bin keine Brasilianerin. Man würde es mir immer ansehen, wie ich mich zur Musik bewege, ich tanze nicht wie eine Brasilianerin, sondern wie eine Europäerin. Das sind ja ganz ursprüngliche Dinge, die man lernt, wenn man sehr klein ist und in einer bestimmten Kultur aufwächst.

uni:view: KritikerInnen bemängeln, dass anlässlich der WM sehr viel Geld in die falschen Projekte investiert wird …
Allgayer-Kaufmann: Ja, es gibt eine Kampagne von verschiedenen österreichischen NGOs, die fordern, dass wir nach der Fußball-Weltmeisterschaft den Blick von Brasilien nicht abwenden sollen und auf verschiedene soziale Missstände im Land hinweisen. Was mich daran etwas stört, ist, dass man das leicht so interpretieren kann, als ob die EuropäerInnen jetzt wieder alles besser wissen: Sie sollen doch, statt das Stadion um 200 Millionen umzubauen, lieber etwas für die Bildung tun oder für die Kinder etc.

Wir täten ja auch gut daran, bei uns selbst zu schauen, wo wir 60 Millionen an Stelle für die Schulen lieber für die Rettung einer Bank ausgeben. Ich bin sicher, dass das eine gut gemeinte Initiative ist, die man in Brasilien aber als Einmischung wahrnehmen wird. Ich glaube, das nimmt man uns ein bisschen übel, weil die BrasilianerInnen, so wie ich sie kenne, sehr sozial engagiert sind. Ich kenne ganz viele MusikerInnen, die ein großes soziales Engagement haben.

Ich hätte es gut gefunden, wenn sich diese Initiative mit brasilianischen Initiativen zusammengeschlossen hätte. Wenn man sich engagiert, um dann den anderen zu sagen, was sie jetzt gerade wieder alles falsch machen, dann kommt das nicht richtig rüber. So als würde man meinen, man kann dem Rest der Welt sagen, was die richtigen Werte sind, und dass man halt lieber sein Geld in andere Projekte stecken soll als in eine WM. Das brauchen wir den BrasilianerInnen nicht sagen, das wissen sie selbst.


 

Ein Tipp für alle, die mehr über Ethnomusikologie erfahren möchten: Ende des Jahres geht das von Regine Allgayer-Kaufmann mitgegründete, vom FWF geförderte ethnomusikologische Online Journal "Translingual Discourse in Ethnomusicology" (TDE) online. Darin werden ethnomusikologische Artikel aus unterschiedlichen Sprachen ins Englische übersetzt, damit sie im Main Discourse besser wahrgenommen werden. Die Artikel werden vorgeschlagen und gehen durch ein doppeltes Peer Review Verfahren und werden dann publiziert.



uni:view:
Diese Kritik, dass es den Menschen ja im Endeffekt nichts bringt, große Stadien hinzustellen, wenn die Leute ganz andere Probleme haben, taucht ja bei sportlichen Großereignissen außerhalb Mitteleuropas immer auf – egal ob in Südafrika oder Sochi oder eben jetzt in Brasilien …

Allgayer-Kaufmann: Genau. Das ist schon ein bisschen unsere Arroganz. Natürlich gibt es viel Korruption und zahlreiche andere Dinge, die im Argen liegen, aber eben auch viele Menschen, die sozial ein sehr, sehr hohes Engagement an den Tag legen. Ich kann das Beispiel unserer letzten Exkursion nennen: Wir waren bei einem Karneval und haben uns mit unterschiedlichen Dingen beschäftigt, unter anderem mit "Frevo", das ist ein sehr akrobatischer Tanz. Ein junger Frevo-Tänzer hatte uns erzählt, dass er auch mit Straßenkindern arbeitet. Das war für einige unserer Studiereden sehr überraschend – für KünstlerInnen in Brasilien ist es hingegen völlig selbstverständlich, ihre Zeit auch in soziale Projekte zu investieren.

uni:view: Haben Sie das offizielle Lied zur Fußball-WM ("We are One –Ole Ola" con Pitbull feat. Jennifer Lopez) schon gehört?
Allgayer-Kaufmann: Nein, ehrlich gesagt nicht.


uni:view:
Hören wir es uns kurz an, vielleicht können sie aus musikwissenschaftlicher Sicht ad hoc etwas dazu sagen. (hört sich das Lied an)


Allgayer-Kaufmann: Das ist ja offenbar zweisprachig, portugiesisch, also brasilianisch, und englisch. Ich finde es gut, dass sie einen Rap genommen haben, es gibt ja auch in Brasilien Rap und Hip Hop. Das ist jetzt keine typische brasilianische Musik, ist aber auch nicht eine typisch nordamerikanische Musik, es ist global. Die BrasilianerInnen haben sehr viel Erfahrung und eine große Begeisterung fürs öffentliche Singen und Mitsingen, ich bin also sicher, dass sie da mitgehen werden. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft wird es natürlich so sein, dass im Stadion nicht nur BrasilianerInnen sitzen, sondern Menschen aus der ganzen Welt. Da denke ich, dass diese Musik vielleicht ein ganz guter Kompromiss ist. Die Performance im Stadion würde mich interessieren (lacht).

uni:view: Sie haben ja auch zum Thema Performance im Stadion geforscht …
Allgayer-Kaufmann: Dieser Aspekt interessiert mich auch bei der laufenden WM besonders. Ich denke, dass die BesucherInnen in Brasilien total angetan sein werden. Ich hoffe, dass genügend BrasilianerInnen im Stadion sind, weil bei den Ereignissen, die ich kenne, gibt es immer jede Menge freier Plätze, man muss nur rechtzeitig da sein. Wenn es keine freien Plätze in den Stadien mehr gibt, keine Stehplätze für die, die kostenlos reinwollen, dann kann natürlich die Stimmung plötzlich eine ganz andere sein – und dann geht vielleicht etwas von dem gewohnten brasilianischen Lebensgefühl im Stadion verloren. Aber da bin ich eben total gespannt, wie sich das darstellt.

uni:view: Wann sind Sie denn das nächste Mal in Brasilien? Ist das schon geplant?
Allgayer-Kaufmann: Ich werde in einem Jahr in Pension gehen und habe den Plan, diesen neuen Abschnitt in meinem Leben in Brasilien zu beginnen –  um mich auf die neue Freiheit und das neue Lebensgefühl einzustimmen. (miwe)

Regine Allgayer-Kaufmann zur WM:

 

Werden Sie die Fußball-WM verfolgen?
Auf jeden Fall, ja. Wir haben schon ausgemacht, dass wir dann hier auf den Campus gehen und mit den anderen zusammen beobachten, wie die BesucherInnen das wahrnehmen, ob sie sich begeistern lassen.
Wen würden Sie gerne im Finale sehen? Wenn ich ganz naiv antworte, dann möchte ich gerne Brasilien und Deutschland im Finale sehen. Das wäre spannend. Den Jubel möchte ich sehen, wenn Brasilien dann siegt.


Univ.-Prof. Mag. Dr. Regine Allgayer-Kaufmann ist Universitätsprofessorin für Vergleichende Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Vize-Dekanin der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Musik Brasiliens, Malawis und Mozambiques.