"Social Distancing": Coronavirus verändert Gesellschaft

Zwei Personen halten Distanz.

Nach Jahrzehnten der Globalisierung bringt die weltweite Ausbreitung des Coronavirus nach Ansicht des Soziologen Franz Kolland eine gewisse Rückbesinnung auf das Nationale und Lokale. Je länger die Phase des "social distancing" dauere, desto mehr würden sich auch die sozialen Beziehungen verändern.

"Wenn wir nun monatelang lernen, dem anderen nicht die Hand zu schütteln, dem anderen nicht zu nahe zu treten, hat das auf jeden Fall eine Auswirkung, die ich nicht unterschätzen würde", so Franz Kolland vom Institut für Soziologie der Universität Wien. "Das kann dazu führen, dass wir unsere Beziehungen neu überlegen: 'Wen umarme ich, wen nicht? Wem kann ich noch vertrauen?' Menschen beginnen da schon nachzudenken, ihren eigenen Habitus zu ändern", betont Kolland.

Kritische Diskussion über Globalisierung

Weniger auf individueller Ebene, sondern ganz grundsätzlich sieht der Wissenschafter eine wiederauflebende kritische Diskussion über Globalisierung. "Wir ziehen uns in das Lokale zurück, ich sehe Menschen, die jetzt aufs Land ziehen und dort ein ganz anderes soziales Leben führen. Das ist schon möglicherweise etwas, das bleiben wird." Es gebe also eine gewisse Tendenz, dass sich "das Globale reduziert", etwa auch das Reisen langfristig zurückgeht. All das könnte laut Kolland durchaus zu anhaltenden Veränderungen unserer Gesellschaft führen.

Durch die Krise würden aber auch neue Vernetzungen im lokalen Rahmen entstehen und sich neue Formen des sozialen Kontakts finden. Der Marktplatz als klassischer Ort des Austausches könnte also durch soziale Medien ersetzt werden – zumindest temporär. Kolland glaubt, dass diese, obwohl bisher oft von älteren Generationen geschmäht, "jetzt doch als Chance und als eine Möglichkeit" gesehen werden, etwa um Hilfsangebote zu organisieren und koordinieren und trotz physischer Distanz in Kontakt mit anderen bleiben zu können.

"Soziologisch überraschend" sei für ihn, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Corona-Krise nicht stärker auftritt, so der Forscher. Derzeit würden fast ausschließlich Nationalstaaten als primäre Akteure auftreten und überregionale Organisationen eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. "Dabei handelt es sich ja aber nicht um ein nationales Problem", betont Kolland.

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Rückkehr zum Staat

Krisen, bei denen Gesundheit im Zentrum steht, seien im Gegensatz zu politischen oder Wirtschaftskrisen "ziemlich neu". Das führe zu einem Perspektivenwechsel, weil das Gesundheitssystem ganz anders strukturiert sei, erklärt Kolland die Rückkehr zum Staat, dessen Rolle in den vergangenen Jahrzehnten schwand.

Grundsätzlich liege in jeder Krise eine Chance, ein Neubeginn, so Kolland. Doch: "Dass die Welt nicht mehr im globalen Kontext gesehen wird, wird Konfliktmöglichkeiten wieder vergrößern, weil auch Konkurrenz wieder zunimmt. 'Ich schließe meine Grenzen, wenn du deine Grenzen schließt.' Diese Rhetorik erinnert mich manchmal an den Kalten Krieg. Das gefällt mir auf makrogesellschaftlicher Ebene gar nicht." (APA/red)

Soziologe Franz Kolland

Franz Kolland forscht und lehrt seit 1997 am Institut für Soziologie der Universität Wien. Von 2010 bis 2019 war er Sprecher des Forschungsschwerpunkts "Familie, Generationen und Gesundheitsförderung" der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der quantitativen Soziologie und der sozialen Gerontologie mit dem Fokus auf Bildungs- und Kulturforschung im Alter, Gesundheit, ältere Arbeitnehmer*innen und neue Technologien. (© Petra Schiefer)