Wie geht es Ihnen?
| 10. Juli 2020Brigitte Lueger-Schuster, Leiterin der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie der Uni Wien, erklärt, wie man am besten mit den Erfahrungen der letzten Monate und der neuen COVID-19-Angst umgehen sollte. Und sie fragt Österreicher*innen: Wie geht es Ihnen im Umgang mit der Pandemie?
Sind Sie müde, erschöpft, froh, dass "es" endlich "vorbei" ist – oder haben Sie Angst vor der zweiten COVID-19-Welle? Die letzten Monate stellten uns vor große Herausforderungen: Homeoffice, Homeschooling, Kurzarbeit, steigende Infektionszahlen, Maskenpflicht, täglich neue Bekanntgaben zur Bewegungs- und Reisefreiheit. Dazu kamen Versprechen von finanziellen Rettungspaketen, viele Klagen, dass das Geld nicht ankommt, massive Veränderungen in den Kontakten mit Familie und Freunden, gefolgt von ersten Lockerungen, die uns ein zartes Gefühl von Normalität versprachen. Doch die Angst vor der Krankheit blieb.
Mit den Lockerungen stiegen die Infektionsraten wieder, die Angst vor einer zweiten Welle ist in einigen Teilen der Gesellschaft gegeben – in anderen herrscht Sorglosigkeit. "War eh nicht so schlimm", es hat nur wenige erwischt. Vergessen sind die rasant angestiegenen Infektionsraten, das Abstandhalten, das Händewaschen, das Maskentragen.
Die einen waren produktiv, die anderen gestresst
Manche erzählen, dass der Lockdown eigentlich gut war, endlich hatten sie Zeit, ihre Wohnung in Ordnung zu bringen, im Homeoffice waren sie so produktiv wie nie zuvor, und sie wollen gar nicht mehr zurück ins Büro. Andere berichten über die Mehrfachbelastungen, litten unter dem Verlust der direkten sozialen Kontakte, konnten nicht schlafen und klagen nun, wie schwierig es sei, wieder in den "normalen" Alltag zurückzufinden.
Nahezu alle aber fühlen sich müde, schlapp und leicht gestresst. Die beschriebenen Reaktionen sind in ihrer Unterschiedlichkeit der Situation angemessen – mit der Ausnahme der Risiko-Verleugnung durch Corona.
Wir sind geübt – wenn da unsere Psyche nicht wäre
Die Infektionszahlen steigen, sie ähneln jenen vom März 2020, was kommt auf uns zu? Müssen wir uns wieder Sorgen machen? Haben wir die Power für einen erneuten Lockdown? Wie wirkt sich diese Angst vor der zweiten Welle auf unsere Ressourcen und auf unseren psychischen Zustand aus?
Ein guter Weg, mit diesen Sorgen und Ängsten zurechtzukommen, ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ja, das Risiko ist nach wie vor hoch. Und ja: "Ich will mich und andere nicht anstecken", "Ich tue alles, um mich und andere zu schützen!". Wir sind mittlerweile gut eingeübt in diesen Gedanken. Wir können das, es ist so einfach umzusetzen! Wenn nur die Psyche nicht wäre, unser Bedürfnis nach sozialer Nähe, nach Freiheit, nach Spaß, nach allem, was bis März normal war.
Corona-Virus: Wie es unser Leben verändert
Von neuen familiären Abläufen bis hin zu den Auswirkungen auf Logistikketten: Expert*innen der Universität Wien sprechen über die Konsequenzen des Corona-Virus in unterschiedlichsten Bereichen. (© iXismus/Pixabay)
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Tipp: Aktives Bewältigen!
Treffen Sie Ihre Verwandten und Freunde, verbringen Sie eine gute Zeit, aber: Organisieren Sie diese Treffen unter der Perspektive Risikovermeidung. Das heißt: Nicht zu viele Menschen einladen, Einhaltung des Abstandes bei geöffneten Fenstern, am Balkon, im Gastgarten. Der Gedanke dazu könnte sein: "Es ist schön, mal im kleinem Rahmen zu plaudern, man kann sich intensiver austauschen."
Mit diesem Gedanken und der entsprechenden Organisation haben Sie eine aktive Bewältigung erzielt, Sie haben Ihre Beziehungen gut gepflegt und es war schön und beglückend – wunderbar für das Immunsystem, gut gegen die psychische Belastung.
Ist Urlaub zu Hause entspannend?
Ein erhöhtes Stresslevel über längere Zeit hinweg führt zu Erschöpfung, Gereiztheit, schlechterer Konzentration. Pausen im Alltag und längere Erholungsphasen helfen, diese Belastungen zu reduzieren. Sich Zeit nehmen, den Tag vertrödeln, Frischluft tanken, neue Eindrücke sammeln, das verstehen wir unter Urlaub. Ist das zu Hause möglich? Ja, aber es braucht eine Struktur für die Urlaubstage – insbesondere dann, wenn der Urlaub zu Hause stattfindet.
Überlegen Sie, mit welchen Aktivitäten Sie die wertvollen Urlaubstage verbringen können, Aktivitäten, die Sie vom üblichen Alltag wegbringen. Machen Sie sich auf in eine Entdeckungsreise in die nähere Umgebung, entdecken Sie ein neues Lieblingsplatzerl, wo Sie gut durchatmen können. Welche Aktivitäten helfen Ihnen, um das Urlaubsgefühl zu erreichen? Frühstück im Kaffeehaus, ein Spaziergang im Wald, der Besuch eines Museums, Pizza und ein Bier?
Sorge um die psychische Gesundheit
Wir wissen nicht, welche längerfristigen Auswirkungen die andauernde Belastung durch Corona und die damit verbundenen Restriktionen zu erwarten sind. Wir gehen derzeit davon aus, dass Menschen mit einer erhöhten psychischen Vulnerabilität die Belastungen intensiver erleben und möglicherweise mit psychischen Erkrankungen reagieren werden. Bei Menschen ohne bereits bestehenden psychischen Schwachpunkten gehen wir davon aus, dass etwas mehr Psychohygiene (Erholung, Pause, aktive Bewältigung) hilfreich sind, um die psychische Gesundheit stabil zu halten.
Gemeinsam mit elf europäischen Partner*innen führen wir zur Zeit eine Studie durch, die nach den Anpassungsmöglichkeiten, den Bewältigungsstrategien und den psychischen Ressourcen fragt, die Menschen in der Corona-Krise erleben. Wir würden uns freuen, wenn Sie Ihre Erfahrungen mit uns teilen!
Machen Sie mit!
Hier geht's zur Online-Umfrage zu Wohlbefinden und Umgang mit der Coronavirus (COVID-19)-Pandemie in Österreich: Die Befragung dauert rund 25 Minuten und umfasst Fragen zu sozialen Kontakten, Gefühlen und Schwierigkeiten in Zeiten der Corona-Krise. Am Ende der Befragung bekommen die Teilnehmer*innen Hinweise darauf, wohin sie sich wenden können, falls sie sich belastet fühlen. Personen, die sich an allen vier Befragungen beteiligen, können an einem Gewinnspiel teilnehmen und dabei Gutscheine im Wert von 100 Euro gewinnen.
Die Studie ist Teil eines internationalen Forschungsprojektes der Europäischen Traumaforschungsgesellschaft (ESTSS). Das Projekt zielt darauf ab, die Schwierigkeiten und Bedürfnisse in elf europäischen Ländern im Verlauf der Pandemie zu erfassen und zu vergleichen.
Brigitte Lueger-Schuster ist Professorin am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien und Leiterin der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Missbrauch in Institutionen, Psychosoziale Folgen von traumatischem Stress, Bewältigungsstrategien, Resilienz, Komplexes Trauma, Komplexe PTSD, Beurteilung von traumabedingten Störungen sowie Menschenrechtsverletzungen. (© Petra Schiefer)