Bilddesign, das die Welt verändert
| 02. September 2019Otto Neurath schuf mit seinem Team im Roten Wien eine Bildsprache mit aufklärerischem Anspruch: Er kombinierte Symbole zu aussagekräftigen Infografiken, um Wissen für alle zugänglich zu machen. Geschichte und Erbe von Neuraths Methode erforscht Günther Sandner vom Institut Wiener Kreis.
Standardisierte Bildsymbole schaffen, die eine bestimmte Menge repräsentieren. Mit dieser simplen Designformel wollte Otto Neurath im Roten Wien Großes bewirken: Wissen demokratisieren. Der Zusammenhang von Säuglingssterblichkeit und Wohnbezirk, Infektionswege der Tuberkulose oder Vermögensverteilung im Deutschen Reich waren nur einige der Themen, die Neurath gemeinsam mit dem Grafiker Gerd Arntz und Marie Reidemeister – seiner späteren Ehefrau – in eine leicht verständliche Bildsprache übersetzte.
"Neurath verfolgte damit einen aufklärerischen Anspruch", erklärt Günther Sandner, Neurath-Experte und FWF-Senior Research Fellow am Institut Wiener Kreis der Universität Wien: "Seine Methode der Bildstatistik sollte ökonomische und soziale Zusammenhänge auch bildungsfernen Personen zugänglich machen." Ausgestellt wurden die Mengenbilder und Piktogramme in dem von Neurath gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, das nicht nur in der Wiener Innenstadt, sondern auch in den "ArbeiterInnenbezirken" außerhalb des Gürtels mit Standorten vertreten war.
Wirtschaftshistoriker und Philosoph, Sozialreformer und Volksbildner – das alles war Otto Neurath. Uni Wien-Wissenschafter Günther Sandner veröffentlichte 2014 die erste Biographie über Otto Neurath in Buchform (zum Buchtipp in uni:view). Neugierig geworden? "Otto Neurath: Eine politische Biographie" gibt es auch in der Universitätsbibliothek zum Ausleihen oder hier zum Erwerben. (© wikipedia/The National Library of Israel Collections)
Die Zeichensprache aus Wien sorgte schnell für Aufsehen im Ausland, das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum eröffnete Niederlassungen in Moskau, Berlin, Amsterdam, New York und London. Doch als in Österreich das austrofaschistische Regime errichtet wurde, floh Neurath – als "Visionär und überzeugter Marxist" zum Regierungsfeind geworden – gemeinsam mit Marie Reidemeister nach Den Haag und später nach Oxford. Dort gründete er 1942, "aus einem unermüdlichen Tatendrang heraus", wie Sandner sagt, das Isotype Institute. Nur drei Jahre später starb er überraschend.
Was danach geschah
Was nach Neuraths Tod mit der Wiener Methode der Bildstatistik passierte, steht im Zentrum von Günther Sandners aktuellem Projekt. Gemeinsam mit seinem Kollegen Christopher Burke, Designhistoriker und Isotype-Experte aus England, wird er in den kommenden Jahren vor allem vier Entwicklungssträngen nachgehen und dabei "bisher weitgehend unerforschtes Terrain" betreten. Die Ergebnisse sollen nach Projektende in einer Monographie auf Deutsch und Englisch veröffentlicht werden.
Kinderbücher und afrikanische Wahlen
Die erste Spur führt das Forscherduo nach Großbritannien, wo Marie Neurath (geb. Reidemeister) nach dem Tod ihres Mannes das Isotype Institute weiterführte. "Das Institut übersiedelte 1948 von Oxford nach London, wo Marie Neurath noch bis in die 1970er Jahre an Projekten arbeitete", berichtet Sandner. So gestaltete sie Kinderbücher mit der Neurath'schen Bildsprache oder unterstützte im Zuge der Dekolonialisierung mit Isoytpe Gesundheitskampagnen, den Schulunterricht oder den Prozess der Wählerregistrierung in afrikanischen Ländern.
Auf eigenen Designpfaden
Zeitgleich arbeitete auch Gerd Arntz in der Tradition von Isoytpe weiter. Nach seinem Kriegsdienst in der deutschen Wehrmacht war er noch viele Jahre in der Niederländischen Stiftung für Bildstatistik aktiv. Doch auch außerhalb Europas hat Isotype Spuren hinterlassen. "Exportiert" wurde die Methode von Rudolf Modley, der Mitarbeiter im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien war, und bereits Anfang der 1930er Jahre nach Chicago ging.
"Er war stark von Isotype beeinflusst, hat sich aber bald von Neurath distanziert und die Bildstatistik – in seinen eigenen Worten – 'amerikanisiert'", erklärt Sandner, der erst im Frühsommer 2019 zahlreiche Archive in den USA nach Modleys Piktogrammen durchforstet hat. Unter anderem im Jahresbericht des Museums of Modern Art New York von 1939/40 ist er fündig geworden, wo Modleys Piktogramme über die Finanzierungsstruktur und die Besuchergruppen des Museums aufklären. In den 1960er Jahren arbeitete Modley dann mit der berühmten Anthropologin Margaret Mead an der Entwicklung der universellen graphischen Symbolsprache Glyphs.
Wo alles begann
Wie stark wirkte Neuraths Methode in Wien nach? Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien besteht nach wie vor, "schließt aber nur teilweise explizit an Neuraths Arbeit an", so Sandner. Marie Neurath stand mit dem ersten Direktor der Einrichtung noch in engem Briefkontakt, "spannend wird es aber sein, die Rolle der Nachfolgegenerationen zu untersuchen."
Am 6. September 2019 lädt das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum zur Eröffnung der Ausstellung Sprechende Zeichen – Von der Wiener Methode der Bildstatistik zu Isoytpe mit einem Doppelvortrag: Günther Sandner und Christopher Burke sprechen unter dem Titel "Worte trennen – Bilder verbinden" über die Entwicklung der Wiener Methode der Bildstatistik. (© Wien Museum)
6. September 2019 um 19 Uhr
Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, Vogelsanggasse 36, 1050 Wien
Anmeldung hier erforderlich, Eintritt frei
Zeitlose Zeichensprache
Bis heute ist Neuraths Erbe präsent: "Viele Zeichen, die wir tagtäglich sehen, stehen in der Tradition von Isotype", erklärt Sandner. Seine Bildmethode ist Grundlage für auf Symbolen basierende Leitsysteme – wie etwa U-Bahn-Netze oder Fluchtpläne. Kürzlich hat die Arbeiterkammer Käthe Leichters legendäre Studie "So leben wir" (1932) aktualisiert herausgegeben und dafür auch die (ursprünglich von Neurath stammenden) Bildstatistiken mit aktuellen Daten anfertigen lassen. Es sind zwar keine Arntz-Signaturen mehr, doch die Idee dahinter erinnert an die Wiener Methode: Soziale und ökonomische Zusammenhänge mit Mengenbildern aufzuzeigen. (hm)
Das FWF-Projekt "Isotype: Entstehung, Entwicklung und Erbe" unter der Leitung von Mag. Dr. Günther Sandner ist am Institut Wiener Kreis der Universität Wien angesiedelt und läuft von November 2018 bis Dezember 2022.