Das ganze Leben für den Staat

Verschuldung? Bestechung? Ehebruch? Für BeamtInnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine heikle Sache. Wie Arbeit, Privatleben und Politik im Staatsdienst zusammenspielten, erforscht Therese Garstenauer in ihrem Elise Richter-Projekt an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät.

Ohne BeamtInnen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Staat zu machen. Sie leisteten ihre Dienste bei der Eisenbahn, im Post- und Telegrafenamt, in Kanzleien, Gerichten, Ministerien oder bei der Polizei. "Aber zum BeamtInnendasein gehörte weit mehr als der Dienst am Staat allein", betont die Historikerin und Sozialwissenschafterin Therese Garstenauer von der Universität Wien. "Von ihnen wurde eine standesgemäße Lebensführung erwartet, die gewissermaßen auch das Privatleben in den Dienst des Staates stellte."

Ein "ungebührliches" Verhalten im Dienst oder Privatleben war nicht nur verpönt, sondern auch ein Verstoß gegen das Dienstrecht. "Denn schließlich stand nicht weniger als das Ansehen des Amtes und damit auch des gesamten Staates auf dem Spiel. Ein Fehlverhalten konnte Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen – sofern es öffentlich bekannt wurde", erklärt die Wissenschafterin, die am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte lehrt und forscht.


Wie werden wir morgen arbeiten?
Therese Garstenauer
: "In manchen Bereichen der staatlichen Verwaltung gelten sie als unersetzlich, aber dennoch wird die Zahl der BeamtInnen in Österreich weiter abnehmen. Derzeit gewinnt das 'New Public Management' an Bedeutung: Es betont die Service- und Dienstleistungsorientierung öffentlicher Stellen, legt aber weniger Wert auf die klassischen Merkmale des Staatsdiensts: Loyalität, Absicherung oder den Schutz vor politischer Einflussnahme. Zukünftig wird es vermehrt darauf ankommen, zentrale Bereiche öffentlicher Verwaltung, der Exekutive und Judikative, vor politischen Eingriffen zu schützen. Die Posten von GeneralsekretärInnen in Ministerien, denen alle BeamtInnen weisungsgebunden sind, müssen seit Anfang 2018 nicht mehr öffentlich ausgeschrieben werden. Das untergräbt das Prinzip des BerufsbeamtInnentums." Alle Infos zur Semesterfrage 2019

Standesgemäßes BeamtInnenleben

Wie Therese Garstenauer in ihrem vom FWF geförderten Elise Richter-Projekt herausarbeitet, änderten sich die rechtlich fixierten wie auch die impliziten Regeln über das richtige Verhalten im Dienst nach Zusammenbruch der Habsburgermonarchie 1918. Loyalität zum Staat blieb dennoch eine wesentliche Tugend von Staatsbediensteten – und damit auch die Verquickung von Arbeit und Privatleben. Entsprechend konnten Ehebruch oder private Verschuldung disziplinarrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

In manchen Fällen war eindeutig, dass eine Dienstpflichtverletzung oder eine Verletzung des Standesansehens vorlag. Andere Fälle erforderten langwierige Diskussionen in Disziplinarkommissionen. "Schon beim Gruß konnte es kompliziert werden", sagt die Forscherin und erklärt: "Von männlichen wie weiblichen BeamtInnen wurde verlangt, ihre Vorgesetzten zuerst zu grüßen – aber was war mit dem ungeschriebenen Gesetz, dass grundsätzlich Herren einer Dame zuerst diese Ehre zu erweisen hatten?"

Fehlverhalten in der Freizeit kann bei Staatsbediensteten auch heute noch Disziplinarverfahren nach sich ziehen. Als etwa Bilder einer exzessiven Party von Berliner PolizistInnen vor dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 öffentlich wurden, waren Disziplinarmaßnahmen im Gespräch. Unterschiedlich werden das Recht auf Streik und die Versammlungsfreiheit gehandhabt: Während sie für österreichische BeamtInnen bereits seit der Republikgründung vor 100 Jahren in der Verfassung festgeschrieben sind, können in anderen Ländern Teilnahmen an Demonstrationen, die Mitgliedschaft in als extrem eingestuften politischen Vereinigungen oder Streiks als Verstöße gegen Verhaltensregeln oder Neutralitätsgebote gewertet werden. (Foto: Bwag/Wikimedia CC-BY-SA-4.0)

Welchem Staat die Treue halten?

Es waren offene oder umstrittene Fragen wie diese, die Disziplinarkommissionen, BeamtInnen und deren Vorgesetzte seinerzeit umtrieben. Darüber hinaus machten die gesellschaftspolitischen Entwicklungen zwischen 1918 und 1940 Staatsdienst und -treue mitunter zur Herausforderung. "Die politischen Systeme änderten sich mehrfach – und damit auch der Staat, dem Staatsbedienstete gegenüber zur Loyalität verpflichtet waren", erklärt die Wissenschafterin.Die Erste Republik folgte dem Zusammenbruch der Monarchie 1918, die parlamentarische Demokratie und Verfassung wurden mit der Etablierung des autoritären Dollfuss-Schuschnigg-Regimes aber 1933/34 wieder außer Kraft gesetzt. Mit dem "Anschluss" 1938 wurde Österreich Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs.

Krieg, Krisen und Konflikte

Systemwechsel und die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges brachten politische Konflikte und ökonomische Krisen mit sich, die auch BeamtInnen betrafen. "Für manche war nach dem Zerfall des Habsburgerreiches ungeklärt, welchem der Nachfolgestaaten sie angehören und dienen sollten. Viele litten auch unter der Hyperinflation und dem massiven Personalabbau", fasst Therese Garstenauer zusammen. "Der Staat brach durch den Zwangsabbau mit dem Prinzip, BeamtInnen im Gegenzug für ihre Loyalität Absicherung, Besoldung und Schutz vor politischer Einflussnahme zu gewähren."

Parallel zu ihrem Elise Richter-Projekt ist Therese Garstenauer an dem vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geförderten Projekt "Die Große Transformation. Staatsdienst und Gemeindedienst in Wien 1918 bis 1920" (Laufzeit 2018 bis 2019, Leitung: Univ.-Prof. Dr. Peter Becker) beteiligt, das am Institut für Österreichische Geschichtsforschung an der Uni Wien angesiedelt ist. (© Veronika Helfert)

Autoritäre und faschistische Politiken

Beamtinnen waren in besonderer Weise vom Abbau betroffen. "Frauen erhielten in der Republik zunächst Zugang zum höheren Verwaltungsdienst", erläutert die Forscherin: "Voraussetzung war ein Jus-Studium, zu dem weibliche Studierende erst 1919 an der Universität Wien zugelassen wurden. Aber ab 1933/34 erließ das autoritäre Regime neue Gesetze, um Frauen aus dem Staatsdienst hinauszudrängen."

Ab 1938 folgte die nationalsozialistische Umgestaltung des BeamtInnenapparats nach völkisch-antisemitischen und politischen Kriterien – wenn auch in geringerem Ausmaß als bislang angenommen: "Weniger als zehn Prozent der österreichischen BeamtInnenschaft, rund 14.000 Personen, wurden im Zuge dessen überprüft, ca. 10.000 davon gemaßregelt, im extremsten Fall entlassen."

BeamtInnen neu entdecken

Mit ihrer umfassenden Untersuchung dieser und anderer Entwicklungen betritt die Historikerin und Sozialwissenschafterin Neuland. Bei der Analyse der umfangreichen Quellenbestände kombiniert sie innovative Methoden der Geschichts- und Sozialwissenschaften. Ziel ist es, die Sozialgeschichte des öffentlichen Dienstes in Österreich nach 1918 in seiner Vielfältigkeit erstmals detailliert zu erforschen. Dabei ist die Wissenschafterin gut vernetzt: Sie arbeitet regelmäßig mit ForscherInnen u.a. aus den USA, Schweden, Deutschland und Osteuropa zusammen und plant derzeit die Gründung einer internationalen Arbeitsgruppe zum Staatsdienst in der Arbeits- und Globalgeschichte. (jr)

Therese Garstenauer forscht in ihrem Elise Richter-Projekt des FWF, das von Jänner 2017 bis Dezember 2022 läuft, zur "Lebensführung von österreichischen Staatsbediensteten (1918 – 1940)". Das Projekt ist am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien, angesiedelt. Ein Beitrag zu ihrem Projekt erscheint demnächst in der Fachzeitschrift "Administory".