Die Vermessung der Alpen

Blick auf die Alpen

Was passiert unter den Alpen? Diese Frage stellen sich Geophysiker*innen aus dem gesamten Alpenraum. Von Südfrankreich bis in nach Osteuropa, vom Mittelmeer bis nach Süddeutschland haben sie deshalb ein Netz von 650 seismischen Stationen aufgebaut. An der Uni Wien führte dies zu überraschenden Entdeckungen.

Auf 4.810 Metern befindet sich der Gipfel des Mont Blancs – der höchste Punkt der Alpen. Doch das Faltengebirge reicht auch tief in den Erdboden. Seine Wurzeln geben Hinweise auf Prozesse, die das Bergmassiv bis heute bewegen. Diese besser zu verstehen, war der Grundgedanke für das groß angelegte Forschungsprojekt "AlpArray", an dem Österreich u.a. mit der Uni Wien vertreten ist. Mit gleichmäßig verteilten, seismischen Messstationen wollte man mehr über tektonische Bewegungen und die Entstehung der Alpen erfahren, und im Zuge dessen die Erdbebengefahr besser einschätzen. Die tiefgelegenste Messsonde des Projekts liegt 2.771 Meter unter dem Meeresspiegel.

Wie werde ich Seismolog*in? Aufbauend auf Bachelorstudien der Physik/Geophysik vermittelt das englischsprachige Joint-Masterstudium Physics of the Earth (Geophysics) an der Uni Wien eine breite und tiefe wissenschaftliche Ausbildung auf dem Gebiet der Physik der Erde. Diese grundlegende Ausbildung ermöglicht es, nicht nur die prinzipielle Funktionsweise unseres Planeten zu verstehen, sondern auch einige der Herausforderungen, die sich für die Menschheit infolge ihrer Abhängigkeit von der physischen Umgebung stellen. Mehr Infos zum Master an der Uni Wien Physics of the Earth

In Bunkern, Weinkellern und an anderen möglichst geschützten Orten wurden in Österreich Seismographen aufgestellt. Felsiger Untergrund eigne sich besser als Sedimente, denn die Geräte reagieren hochempfindlich auf Erschütterungen von außen, erklärt Florian Fuchs, der als Seismologe am Institut für Meteorologie und Geophysik arbeitet. Aber sind Erdbeben überhaupt ein Thema in den Alpen? "Ja, sind sie", meint Fuchs. In der größeren Alpenregion, in der die Messstationen aufgestellt sind, gebe es jährlich tausende Erschütterungen, "doch die meisten sind nicht so dramatisch." Viele werden von der Bevölkerung nicht einmal wahrgenommen.

650 seismische Messstationen verteilen sich heute dank des AlpArray-Projekts über den gesamten Alpenraum, etwa die Hälfte davon musste neu aufgebaut werden. Die bereits existierenden Stationen werden meistens von Erdbebendiensten betrieben und sind permanent da. (© AlpArray)

"Das war ein Aha-Moment"

Ende des Jahres 2018 machten die Forscher*innen eine überraschende Entdeckung. Nach einer Gasexplosion in einer Verteilerstation im niederösterreichischen Baumgarten überprüften die Geophysiker der Uni Wien ihre Messgeräte. "Wir haben erwartet, dass die Explosion eine Art Erdbebenwelle erzeugt und wir das sehen", erklärt Fuchs. Die aufgezeichneten Signale waren jedoch keine seismischen, sondern Infraschall. "Das war ein Aha-Moment. Keiner von uns hat gedacht, dass die Geräte so empfindlich sind, dass sie Infraschall erfassen", erzählt Fuchs: "So konnten wir die genaue Zeit und den Ort der Explosion feststellen und sogar die polizeilichen Ermittlungen zum Explosionshergang unterstützen."

Was bedeutet die Entdeckung der Infraschall-Signale für die bisherige Forschung? "Signale, die zuvor keinen Sinn gemacht haben, könnten Schallsignale sein", so Fuchs. Das herauszufiltern sei allerdings nicht so einfach. "Damit das gelingt, haben wir nun vier Messstationen mit neuen Sensoren ausgestattet. Diese messen nur Infraschall, also Druckveränderungen in der Luft", so der Seismologe: "In Zukunft möchten wir alle Stationen mit diesen Sensoren ausrüsten. 

Einer der Initiatoren des Projekts ist Götz Bokelmann, Professor für Geophysik an der Universität Wien. "Am Anfang haben wir nicht geglaubt, dass so eine große Kooperation funktioniert", erzählt er während eines Vortrags am Institut für Meteorologie und Geophysik. Immerhin mussten die beteiligten 55 Institutionen aus 17 Alpenländern Fördermittel und die Infrastruktur selbst aufstellen. In Österreich dauerte der Aufbau etwa ein Jahr, von 2015 bis 2016. (© Barbara Mair)

Standort bestimmt die Deutlichkeit der Signale

Gemeinsam mit seinem Team hat Fuchs einen ähnlichen Fall untersucht, als es Anfang 2019 zu einer weiteren Gasexplosion in der Nähe von Ingolstadt in Bayern kam. Auch hier haben die Geräte Infraschall übertragen. Mit über 80 Geräten standen weit mehr Daten als in Baumgarten zur Verfügung. Der Seismologe wollte untersuchen, wie der Schall in die Geräte einkoppelt. "Das hat aber nicht funktioniert, weil der Untergrund immer ein anderer ist – manche stehen auf festem Fels, andere im Burgkeller." Je nachdem, wo die Geräte stehen, seien sie unterschiedlich empfindlich für das akustische Signal. Auch hier könnten die neuen Sensoren helfen.

Nachdem die Geophysiker*innen die Explosion lokalisiert hatten, rechneten sie mit dem Atmosphärenmodell der Wettervorhersage aus, wo der Schall angekommen sein sollte und glichen die Ergebnisse mit den tatsächlichen Daten ab – die Werte widersprachen sich. "Messungen, wie die in Ingolstadt zeigen auf, wo die Grenzen solcher 'Atmosphärenmodelle' liegen und wie man sie verbessern kann", erklärt Fuchs: "Uns Seismologen bringt das zwar nicht weiter, aber für die Meteorologie ist es vielleicht von Interesse."

Seismologe Florian Fuchs vor den Messgeräten im Geozentrum der Uni Wien: "Bei einer Explosion, die Schall erzeugt, wie zum Beispiel Raketentests, wandert der Schall meist in alle Richtungen, stößt in etwa 50 km Höhe an die Stratosphäre und wird von da wieder langsam nach unten gebogen und trifft nach 200 bis 300 km wieder auf die Erdoberfläche." (© Sarah Nägele)

"Für uns ist das ein Zufallsprodukt"

Ein nächster Schritt sei es nun, mit Wissenschafter*innen in Kontakt zu kommen, die verstärkt mit Infraschall arbeiten: "Die Entdeckung der Infraschall-Signale ist für uns ein totales Zufallsprodukt. Eigentlich schön, wenn Wissenschaft so funktioniert."

Ursprünglich war die Projektlaufzeit von AlpArray auf drei Jahre angelegt, einige Stationen bleiben aber bestehen. "Das betrifft vor allem den Osten des Landes, da es im Westen schon länger ein gutes Netz an seismischen Stationen gibt", erklärt Fuchs. Man stehe hier im Austausch mit der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, die die Stationen für ihre tägliche Arbeit nutzt. Am Institut für Meteorologie und Geophysik ist man nun mit der Auswertung beschäftigt. (sn) 

Mit AdriaArray ist bereits ein internationales Nachfolgeprojekt in Planung, das die gesamte Balkan-Halbinsel ("von Wien bis Athen") abdecken soll. Ein Teil der Stationen wird dafür versetzt. Auch hier gibt es viele Fragen: Wie deformiert sich im Mittelmeerraum die Erdkruste? An manchen Stellen dort ist das Erdbebenrisiko groß, aber kaum erforscht.