Geschichte im Fernsehen: Wie wirkt der Holocaust?

Wie wird das Thema Holocaust im österreichischen, deutschen und israelischen Fernsehen vermittelt und verarbeitet? Wie reagiert das Publikum? Ein internationales Team rund um den Medienexperten Jürgen Grimm hat dazu erstmalig eine ländervergleichende Studie durchgeführt.

"Wir haben über 800 Menschen in Österreich, Deutschland und Israel zur Nutzung und Wirkung geschichtsthematisierender Fernsehsendungen befragt – in diesem Fall zur Holocaust-Dokumentation 'Nacht und Nebel'", erklärt Jürgen Grimm. Er hat das Projekt "TV-Geschichtsvermittlung im transnationalen Raum" gemeinsam mit Josef Seethaler (ÖAW) und Rainer Gries – einem langjährigen Kollegen am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, der aktuell an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig ist – sowie dem Fernsehsender 3sat umgesetzt. "Die Ergebnisse sind sehr interessant", so der Medienwirkungs- und Methodenexperte: "Unsere Studie belegt, dass die Zugänge zur Geschichte auch in Zeiten einer vernetzten Welt noch immer stark von der jeweils erlebten nationalen Wahrnehmung geprägt sind."


Mit "Nacht und Nebel" (1955) schuf der französische Regisseur Alain Resnais eine berührende Dokumentation über deutsche Konzentrationslager in Polen, die durch die Kombination aus Nachrichtenbeiträgen, Archivmaterial der Alliierten und Fotos die Grausamkeiten des Holocaust schildert. (Foto: Szene aus "Nacht und Nebel")



Geschichtsvermittlung als Humanitätstransfer

Um die Nutzung und Wirkung des Holocaust-Films in den jeweiligen Ländern zu vergleichen, haben Grimm und sein Team ein achtstufiges methodisches Modell entwickelt. Auf der obersten Stufe findet sich der sogenannte "Humanitätstransfer", der gewissermaßen den "Idealfall" von Geschichtsvermittlung im Fernsehen darstellt, nationale Perspektiven "kosmopolitisch zu erweitern".

"Alle Dimensionen der Geschichtsvermittlung basieren zunächst einmal auf dem 'Wissenstransfer', der die Grundlage für Deutungsmuster in Bezug auf die Historie und auch für gegenwartsbezogene Einstellungen wie z.B. die Einschätzung der Gefahr autoritärer Herrschaft oder die Bewertung des Staats Israel betrifft. Diese Dimensionen der Geschichtsvermittlung sind zumeist national geprägt, während der 'Humanitätstransfer' in einer transnationalen Rezeptionsperspektive gründet", geht der Projektleiter ins Detail: "Der Humanitätstransfer misst sich an Indikatoren wie der Verringerung von Vorurteilshaftigkeit, dem Engagement für Menschenrechte, der Reflexivität der eigenen Nationalität oder der Fähigkeit, sich mit anderen jenseits von rassischen, ethischen und religiösen Überlegungen zu vergemeinschaften."

Mittels des methodischen Gerüsts und entsprechender Tests mit ZuschauerInnen vor bzw. nach der Betrachtung des Films wurde deren Wirkung systematisch erfasst. "Auf diese Weise sehen wir, was TV-Beiträge auf den einzelnen Ebenen der Geschichtsvermittlung leisten, und ob es bestimmte nationale Bedingungen gibt, an denen sich entscheidet, wie produktiv der Humanitätstransfer ausfällt. All das hilft dabei zu verstehen, wie Geschichtsthemen im TV gestaltet sein sollten, damit sie eine positive Wirkung im Sinne der Kultivierung eines nationalen und transnationalen Geschichtsbewusstseins entfalten können", beschreibt Grimm das übergeordnete Ziel.

Vorurteile, Patriotismus und Zeitzeugen

Was waren die Testresultate? "Der Ländervergleich hat gezeigt, dass es zum Beispiel im Bereich der Vorurteilshaftigkeit deutliche Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland gibt. Dies betrifft sowohl das Ausgangsniveau vor als auch die Wirksamkeit nach dem Film: Beim österreichischen Publikum wurden mehr Vorurteile gemessen als bei den deutschen Nachbarn, umgekehrt ist hier aber die Reduktion der Vorurteile nach dem Film größer ausgefallen", fasst der Medienexperte zusammen. Bei einer zweiten Forschungsfrage, die den nationalen Blick auf Geschichte herausfiltern sollte, waren wiederum die Aussagen der israelischen Landsleute aus wissenschaftlicher Perspektive sehr interessant: "Bei den israelischen StudienteilnehmerInnen waren patriotische Gefühle zwar stark ausgeprägt. Trotzdem scheint es, als wären sie sehr gut dazu in der Lage, das Thema Holocaust auf einer allgemeinen Humanitätsebene und nicht nur auf den eigenen Staat verengt zu sehen."


"Eine der eindrücklichsten Erlebnisse vermittelte uns das Holocaust-Museum in Ariel, das seit mehr als 30 Jahren von zwei Überlebenden des KZs Auschwitz betrieben wird und die Persistenz des Themas in Israel sehr deutlich zum Ausdruck bringt", schildert Grimm. (Foto: Grimm/Breitinger)



Auch eine weitere wichtige Frage, die im Zuge der Vermittlung von bestimmten Geschichtsthemen im TV immer wieder auftaucht, konnte der Kommunikationswissenschafter klären: Sollen nur Opfer zu Wort kommen oder auch TäterInnen? "Der Königsweg liegt hier in einer intelligenten Kombination. Wenn nur Opfer gezeigt werden, entsteht auf RezipientInnenseite schnell ein gewisser Überdruss, was zu einer einseitigen Perspektive führt. Findet hingegen zusätzlich eine Konfrontation mit TäterInnen statt, entstehen weitaus produktivere Verarbeitungsprozesse."

Aus der Vergangenheit lernen

Warum die ForscherInnen das heikle Thema Holocaust für ihre Untersuchung gewählt haben? "Medien können hier helfen, eine Verständigung herbeizuführen", ist Grimm überzeugt. "Letztendlich geht es bei der Beschäftigung mit Geschichte immer auch darum, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und zu verhindern, dass so etwas noch einmal passieren kann."

Die Studienergebnisse sollen Ende 2012 in Buchform erscheinen. Noch in Planung ist eine zweite Projektphase, die vorsieht, alle historisch ausgerichteten Fernsehprogramme in Österreich und Deutschland zu erfassen und mit einer Medienwirkungsuntersuchung im Feld sowie der Ausstrahlung einer Fernsehsendung in beiden Ländern zu kombinieren. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen die Ländervergleiche auf andere europäische Staaten ausgeweitet werden. (ms)

Das Projekt "TV-Geschichtsvermittlung im transnationalen Raum", dessen methodisches Konzept von Univ.-Prof. Dr. Jürgen Grimm vom Institut für Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Fakultät für Sozialwissenschaften entwickelt wurde und der das Gesamtprojekt zwischen Wien und Jena koordiniert, läuft seit 1. Jänner 2011 und bis 31. Dezember 2015. Es ist Teil des interdisziplinären Projektverbunds "Geschichtsvermittlung in der Mediengesellschaft", in dem HistorikerInnen und KommunikationswissenschafterInnen aus Österreich, Deutschland, Russland, USA und Israel zusammenarbeiten. Hauptprojektpartner und Sprecher des Projektverbundes ist Prof. Dr. Rainer Gries von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Weitere Kooperationen des Wiener Projekts bestehen mit 3Sat sowie Wissenschaftlern aus Österreich (Josef Seethaler, Peter Vitouch, Katharina Sarikakis), Israel (Moshe Zuckermann, Amir Hetsroni), Russland (Peter Schmidt) und Australien (Ingrid Volkmer).