Geschlecht und Gesellschaft
| 11. November 2015Geschlechterforschung an der Universität Wien sichtbar machen, bündeln und als interdisziplinäres Fach etablieren: Das sind die primären Ziele des seit 2014 laufenden Forschungsverbunds "Geschlecht und Handlungsmacht" unter der Leitung der Politikwissenschafterin Birgit Sauer.
Forschung zu genderspezifischen Themen findet derzeit an der Universität Wien in vielen Fachrichtungen statt, von Politik-, Sozial-, Geistes- und Rechtswissenschaften bis hin zur Naturwissenschaft. Sie alle zu vernetzen, ist eines der Hauptanliegen des jungen Forschungsverbundes. "Gemeinsam ist uns allen, Gender als soziales Geschlecht zu verstehen und nicht als biologisches – daraus ergibt sich, dass Männer und Frauen jeweils unterschiedliche Rollen einnehmen können und durchaus auch sollen", erklärt Birgit Sauer vom Institut für Politikwissenschaft, die Sprecherin des Forschungsverbundes. "Es geht dabei nicht nur um Frauen, es geht uns um das Verhältnis von Geschlecht in unterschiedlichen Kontexten", betont sie.
Abseits der Biologie
Heute herrschen nach wie vor ungleiche Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft, die allerdings nicht einfach auf die vermeintlich biologische Konstitution der Menschen zurückgeführt werden können. Birgit Sauer gibt dazu ein anschauliches Beispiel anhand der sozialen Positionierung: "Eine Universitätsprofessorin verfügt in der Gesellschaft sicherlich über mehr Macht als ein Bauarbeiter. Die unterschiedlichen sozialen Positionierungen von Männern und Frauen in unterschiedlichen Kontexten sind wichtige Themen für uns."
Schwerpunktsetzungen
Konkret gliedert sich der Forschungsverbund in drei Schwerpunkte, die im Wesentlichen eine große Bandbreite der unterschiedlichen Gender-Themen an der Universität Wien abdecken. So leitet Birgit Sauer den Schwerpunkt "Gender und Handlungsmacht im Rahmen geschlechtsbasierter Gewalt", die Physikerin Ilse Bartosch vom Institut für LehrerInnenbildung und die Biologin Sigrid Schmitz "Gender und Handlungsmacht im Rahmen von Körperdiskursen" und die Historikerin Gabriella Hauch vom Institut für Geschichte "Gender und Agency im Rahmen von sozialem Wandel/gesellschaftlichen Transformationen".
Geschlecht und Gewalt
Der Fokus der Politologin Sauer hat sich im Laufe ihrer Tätigkeit im Initiativkolleg "Gender, violence and agency in the era of globalization" (2010 bis 2013) herauskristallisiert und führt die wesentlichen Inhalte und Themen aus dem Doktoratsprogramm weiter. "Gewalt und ihre vernichtenden Auswirkungen auf die Handlungsmacht von Menschen sind ein entscheidender Faktor, Geschlechterhierarchien zu stabilisieren", sagt sie: "Wir gehen davon aus, dass sich neue Formen geschlechtsbasierter Gewalt ausbilden. Diese betrachten wir im Kontext patriarchaler Strukturen."
Im Schwerpunkt "Geschlecht und Gewalt" entstehen auch eine Reihe von Dissertationen zu Themen wie u.a. häusliche Gewalt in Österreich, Frauenhandel, Prostitution oder Geschichte der österreichischen Frauenhäuser. (Foto: Nils Hamerlinck/Flickr)
Wirklich interdisziplinär
Am weitesten über die Fächergrenzen hinaus geht wohl der Schwerpunkt zur Rolle von Gender und Körperdiskursen. Unter der Leitung von Ilse Bartosch und Sigrid Schmitz wird in dieser Gruppe die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Senior Scientists und NachwuchswissenschafterInnen aus den Sozial-, Kultur-, Geisteswissenschaften, den Gender Studies, der Psychologie, den Lebenswissenschaften und den MINT-Fächern gestärkt. In den Naturwissenschaften wie in den Sozial- und Kulturwissenschaften sind Kultur und Natur im Fokus, und es wird analysiert, wie Umwelt und sozio-kulturelle Faktoren bis in die Biologie des Körpers einwirken – und umgekehrt.
Historischer Zugang
Gabriella Hauch, die auch den Themenschwerpunkt "Geschlechtergerechtigkeit" im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien koordiniert hat, leitet den dritten Fokus im Forschungsverbund. Dieser verknüpft und analysiert Gender und Handlungsmacht mit unterschiedlichen historischen, regionalen, gesellschaftspolitischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten. Auch hier ist der interdisziplinäre Zugang ein ganz wichtiger, mit dabei sind historische, sozialwissenschaftliche, philologische und literaturwissenschaftliche Ansätze.
Weitere Aktivitäten
Neben intensiver Forschung steht Vernetzung ganz oben auf der Agenda. So werden regelmäßig Konferenzen und Workshops organisiert – erst kürzlich war die bekannte französische feministische Psychoanalytikerin Luce Irigaray zu Gast und hielt die Lecture "How can sexuate difference rescue humanity today?". Weiters wird der Nachwuchs spezifisch gefördert, u.a. mit einem Preis für wissenschaftliche Abschlussarbeiten. Ganz neu ist die Entwicklung einer Datenbank, die alle WissenschafterInnen, die zu Gender an der Universität Wien forschen, zusammenführen und ihre jeweiligen Projekte beschlagworten soll.
Dass das Thema Gender und Handlungsmacht von großer gesellschaftlicher Relevanz ist, zeigt auch der kürzlich an Birgit Sauer vergebene Käthe Leichter-Staatspreis 2015, den sie für ihr Engagement für die institutionelle Verankerung der feministischen Politikwissenschaft und der interdisziplinären Gender Studies in Österreich erhalten hat. (td)
Der Forschungsverbund Geschlecht und Handlungsmacht mit der Sprecherin Birgit Sauer und den stv. SprecherInnen Gabriella Hauch und Nikolaus Benke startete im Jänner 2014 an der Universität Wien und läuft insgesamt drei Jahre. Beteiligt sind sechs Fakultäten und zwei Zentren.