"Meine Forschung": "Wie das Zeichnen wol zu begreiffen sey"

Die Zeichnung wird in der kunsthistorischen Forschung häufig als Zeugnis des künstlerischen Genies oder als Vorstudie zu einem entstehenden Werk gesehen. In ihrer Dissertation zu Bildhauerzeichnungen des 17. Jh. erforscht Nina Stainer, welche Informationen darüber hinaus in den Zeichnungen stecken.

Als im Jahr 1955 im Nachlass eines Imster Bildhauers eine Sammlung von Skizzen auftauchte, war zunächst unklar, welche Erkenntnisse der Fund mit sich bringen würde. Es zeigte sich, dass die Zeichnungen von drei verschiedenen Händen stammten, vom letzten Besitzer zu einem Konvolut zusammengefasst. Ein wichtiger Schritt gelang, als einige Blätter mittels einer Signatur einem renommierten Bildhauer des 17. Jahrhunderts zugeschrieben werden konnten: Thomas Schwanthaler, ansässig im heute oberösterreichischen Ried im Innkreis.

Etwa 30 Jahre nach diesem Fund wurde in Pécs, unweit der südlichen Grenze Ungarns, ein zweites Konvolut von Zeichnungen entdeckt– auch hier eine Mappe mit lose zusammengestellten Blättern, die diesmal fünf verschiedenen Händen zugeordnet werden können. Ein Forscherteam stellte schließlich eine stilistische Verbindung zu Skulpturen im oberösterreichischen Raum fest – Skulpturen, die aus der Werkstatt Thomas Schwanthalers stammten.

Nina Stainer setzt in ihrer Dissertation am Institut für Kunsgeschichte der Universität Wien die beiden Konvolute erstmals in Beziehung zueinander und untersucht sowohl die Funktion der einzelnen Blätter als auch die Ursachen für ihre weite geografische Verstreuung.

Ein blinder Fleck

Die Blätter der erwähnten Konvolute lassen sich einerseits unter werkbezogenen Gesichtspunkten betrachten: Stadien der Entwurfszeichnung, Prozesse der Werkgenese oder die Entwicklung der Sammlungs- und Sammlergeschichte, in der die Skizze als Abbild des künstlerischen Genies geschätzt wird. Damit wird die Bildhauerzeichnung zwar theoretisch erfasst, gleichzeitig bleibt aber immer auch ein blinder Fleck: "Für die Blätter aus Schwanthalers Werkstatt muss ein wesentlicher Aspekt noch viel stärker beleuchtet werden: Sie stammen aus der Werkstatt eines zünftisch organisierten Bildhauers", so Nina Stainer.

Im uni:view-Dossier "Meine Forschung"  stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.

Der Künstler im Fokus

Die Methoden der Künstlersozialgeschichte ermöglichen es, nicht das Werk selbst, sondern seinen Urheber in den Mittelpunkt zu stellen – und erlauben eine neue Perspektive, die gerade für die Konvolute neue Erkenntnisse bringt. Thomas Schwanthaler, geboren 1634, erlernte das Bildhauer-Handwerk bei seinem Vater und übernahm später dessen Werkstatt. Er fertigte zahlreiche Werke im Dienste geistlicher Auftraggeber an und erlangte ein solides Renommee, trotzdem war er den Schwankungen des Marktes ausgeliefert, focht Auseinandersetzungen mit Rivalen vor Gericht aus und kämpfte mit finanziellen Schwierigkeiten.

Schwanthalers Ausbildung, Alltag und Schaffen waren durch die Vorschriften der lokalen Zünfte bestimmt und seine Werke nicht nur von den Vorgaben seiner Auftraggeber, sondern auch von jenen der Handwerksordnung geformt.

"Je näher ich Thomas Schwanthaler als Person des 17. Jahrhunderts und seiner Werkstatt als handwerklichem Betrieb kam, desto größer schien die Kluft zwischen den theoretischen Überlegungen zur Bildhauerzeichnung und der tatsächlichen Bedeutung der Blätter aus seiner Werkstatt zu werden", führt Stainer aus.

Dieser Auszug aus den Rats- und Bürgerverhörsprotokollen des kurfürstlichen Marktes Ried vom 13. Jänner 1668 dokumentiert den starken Wettbewerb zwischen den ansässigen Handwerkern: Thomas Schwanthaler fordert vor Gericht, sein Konkurrent Veit Adam Vogl möge das Bildhauerhandwerk unterlassen und sich auf sein ursprüngliches Gewerbe, die Gastwirtschaft, besinnen, weil ihm hier durch "sein nahrung merkhlich entzogen wirdt".

Handwerksgeschichte

Eine Schlüsselrolle in der Geschichte der genannten Bildhauerzeichnungen spielen die Gesellen, die Schwanthaler in seiner Werkstatt beschäftigte. Jener Tiroler Bildhauer, in dessen Nachlass das erste Konvolut auftauchte, steht am Ende einer langen Reihe von Mitarbeitern Schwanthalers. Während einer mehrjährigen Gesellenwanderung legten junge Handwerker oft große Distanzen zurück, um ihr Wissen in verschiedenen Werkstätten zu erweitern. In dieser Zeit fertigte der Geselle selbst Zeichnungen an, um sich an das Gelernte zu erinnern und Gesehenes zu dokumentieren, erhielt aber oft auch Blätter seines Meisters.

Auf diese Weise reisten Zeichnungen Schwanthalers quer durch Mitteleuropa, wurden an anderen Orten rezipiert und weiterverwendet und in die Sammlungen in Imst und Pécs integriert.

"Meine Arbeit beleuchtet die Entstehungsprozesse, die hinter den Bildhauerzeichnungen stehen, und trägt so zur Erforschung der europäischen Handwerksgeschichte bei", sagt die Kunsthistorikerin. Im Mittelpunkt stehen die zünftische Ausbildung des Bildhauers und ihr Einfluss auf die Kunstproduktion des 17. Jahrhunderts.

Nina Stainer, geb. 1985, hat Kunstgeschichte und Musikwissenschaft in Wien und Hamburg studiert. Neben ihrer Tätigkeit im Kulturmanagement arbeitet sie an ihrer Dissertation mit dem Arbeitstitel "Bildhauerskizzen des 17. Jahrhunderts in Oberösterreich, Tirol und Ungarn", betreut von ao. Univ.-Prof. Dr. Ingeborg Schemper am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien.

Literaturtipps zum Thema: Reinhold Reith: Know-How, Technologietransfer und die Arcana Artis im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit, in: Early Science and Medicine, Bd. 10, Nr. 3, Openness and Secrecy in Early Modern Science 2005, S. 349-377. Andreas Tacke: Der Künstler über sich im Dreißigjährigen Krieg. Überlegungen zur Bildlichkeit von Selbstwahrnehmung in der Frühen Neuzeit, in: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden, München 2001, S.999-1041.