Sozialgeschichte: Politische und gesellschaftliche Umbrüche auf globaler Ebene
| 09. Dezember 2021Im Rahmen der aktuellen Semesterfrage resümiert Osteuropahistoriker und Wittgenstein-Preisträger Philipp Ther über die Hintergründe seines Projekts "Die große Transformation" und erklärt warum dabei der Blick auf die Gesellschaft genauso wichtig ist wie auf Politik und Wirtschaft.
uni:view: Ihr Wittgenstein-Projekt trägt den Titel "Die große Transformation. Eine vergleichende Sozialgeschichte globaler Umbrüche". Das klingt nach einem unglaublich riesigen Forschungsfeld. Wie ist Ihr Zugang zu großen Transformationen?
Philipp Ther: Der Begriff "die große Transformation" ist abgeleitet vom wichtigsten Werk des ungarisch-österreichischen Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi. Darin beschreibt er die Zeit der Industrialisierung in England im 19. Jahrhundert und – wie Polanyi das nennt – den damit verbundenen "globalen Laissez-faire-Kapitalismus" bis in die Zwischenkriegszeit. In dem wir im Projekt seine Definition verwenden, brechen wir den nach 1989 vorherrschenden Transformationsbegriff – in dem es um die zwei Teloi der liberalen Demokratie und der völlig freien Marktwirtschaft ging. Wir beschäftigen uns ähnlich wie Polanyi auch mit dem gesellschaftlichem Wandel und der darüber hinausgehenden Frage nach den Rückwirkungen der postkommunistischen Transformationen auf den Westen.
Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2021/22 lautet: "Worauf legen wir noch Wert?" Zur Semesterfrage (© Universität Wien)
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uni:view: Wie lassen sich Transformationen weltweit untersuchen?
Ther: Das schildere ich am besten anhand eines konkreten, erst kürzlich abgeschlossenen Projekts: In "Transformation from below" haben mein Team und ich Schiffswerften in Uljanik in Kroatien und Gdynia in Polen miteinander verglichen. Konkret untersucht haben wir die Zeit des späten Staatssozialismus, Postsozialismus und die Zeit des EU-Beitritts beider Länder. Die EU-Wettbewerbspolitik hat dazu beigetragen, dass die großen Werften in beiden Ländern jeweils fünf Jahre nach dem Beitritt zur Union bankrott gegangen sind. Die großen Gewinner dieser Transformation waren – in wirtschaftlicher Hinsicht – in den vergangenen 40 Jahren ostasiatische Werften, aus Südkorea, aber auch mehr und mehr aus China. Die Geschichte und das Schicksal dieser osteuropäischen Werften kann man nicht ohne die ostasiatische Konkurrenz verstehen, die seitdem sehr stark gewachsen ist. So lassen sich globale Umbrüche auch anhand konkreter Fallbeispiele näher und genauer analysieren.
uni:view: Für Ihre Forschungen haben Sie 2020 ein eigenes Zentrum gegründet, den "Research Cluster for the Study of East Central Europe and the History of Transformations (RECET)". Können Sie die Zielsetzungen des Zentrums näher erläutern?
Ther: Transformationen dienen uns als Dachbegriff, das Zentrum selbst ist in insgesamt fünf Teilbereiche bzw. Forschungsfelder, aufgeteilt: erstens ein sozialhistorischer Schwerpunkt, zweitens Reformpolitiken und Wirtschaftsdenken, drittens Transformation und Migration, viertens Zivilgesellschaft und Freiwilligkeit, und ein fünfter Schwerpunkt beschäftigt sich mit kulturellen Transformationen. All diesen Schwerpunkten sind verschiedene Einzelprojekte zugeordnet. RECET ist in diesem ersten Jahr sehr stark gewachsen und ist dank weiterer Einwerbungen – über den Wittgenstein-Preis hinaus sind es jetzt schon 1,7 Millionen Euro – und der Unterstützung des Rektorats bereits dauerhaft institutionalisiert, d.h. es wird auch bestehen, wenn die Preisgelder eines Tages auslaufen.
uni:view: Sie beleuchten Transformationen sowohl aus der Makro- als auch der Mikroperspektive. Was sind die genauen Unterschiede und warum ist es bedeutend, sich beide Perspektiven anzuschauen?
Ther: Die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung nach 1989 hat überwiegend mit einer Makroperspektive gearbeitet, d.h., es ging um den Umbau zu Marktwirtschaften, um Wirtschaftsreformen und dabei stark um Privatisierungen. In Bezug auf die gesellschaftliche Perspektive ist die Forschungslage weniger gut, aber diese Perspektive ist genauso wichtig.
Polen ist dafür ein gutes Beispiel: Unter den sogenannten Transformationsstaaten gilt es in wirtschaftlicher Hinsicht als relativ erfolgreiches Land. Gleichzeitig stehen die guten Wirtschaftsdaten in Kontrast zu den Erfahrungen vieler Menschen. Selbst wenn es einen Zuwachs an Wohlstand gab und eine bessere Ausstattung mit Konsumgütern, ist es doch so, dass vor allem junge Leute diese Transformationen sehr viel kritischer betrachten. Das konnten wir aus Ego-Dokumenten wie z.B. den Einsendungen zu Memoirenwettbewerben, Briefen, Zeitungsartikeln und zeitgenössischen sozialhistorischen Interviews erschließen. zum Teil erklärt das auch den Rechtsruck unter der PiS und deren Wahlsiege.
Podcast mit Philipp Ther: Audimax: "Mehr Demokratie wagen"
Die osteuropäischen Staaten haben nach den Revolutionen trotz unterschiedlicher Entwicklungen bzw. politischer Systeme gemeinsame Wertevorstellungen von 1989 hochgehalten. Der Historiker Philipp Ther spricht im Podcast u.a. über den Wandel Osteuropas, die Entwicklung der Werte von 1989 und Gleichstellung in Europa. (© derknopfdruecker.com)
uni:view: Inwieweit fließt ein Wertewandel – das Thema unserer aktuellen Semesterfrage – in Ihre Forschungen ein?
Ther: Ein positiver Orientierungspunkt für uns sind die Werte von 1989, die bei unseren Nachbarn sehr wichtig geblieben sind. Auch bei der Revolution in der Ukraine von 2013/14 wurden die Werte von 1989 nochmals ganz bewusst aufgenommen. Diese Wertvorstellungen interessieren uns selbstverständlich, aber ebenso die Werte der autoritären Regimes im östlichen Europa.
Was den rezenten Wertewandel betrifft, muss man feststellen, dass es seit der globalen Finanzkrise von 2008/09 eine Abwendung von westlichen Werten im postkommunistischen Europa, aber auch in Ostasien, gibt. Dort haben die Vertreter*innen von Werten an Macht gewonnen, die man mit Bezug auf 1989 als konterrevolutionär bezeichnen kann. Wir beobachten in den letzten zehn Jahren einen antidemokratischen und antiliberalen Wertewandel.
uni:view: Herzlichen Dank für das Interview! (td)
Philipp Ther, geb. 1967 in Mittelberg, Österreich, promovierte und habilitierte sich an der FU Berlin, war anschließend Professor am EUI und ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien. Hier leitet er auch das Research Cluster for the History of Transformation (RECET). 2019 erhielt Ther die höchstdotierte wissenschaftliche Auszeichnung Österreichs, den Wittgenstein-Preis.
Das Jahresthema des CENTRAL-Netzwerks beschäftigt sich mit dem europäischen Forschungsraum und der Frage "What unites and divides us – gibt es einen gemeinsamen europäischen Forschungsraum?". Wir haben Philipp Ther diese Frage ebenso gestellt.
Philipp Ther: Die Universität übernimmt in einem schwierigen, aber auch besonders wichtigen Moment die Federführung des zentraleuropäischen Universitätsverbunds CENTRAL, in dem sich die Karls-Universität, die Humboldt-Universität, die Universität Warschau und die ELTE in Budapest zusammengeschlossen haben. Hoffentlich wird eines Tages auch die Comenius-Universität in Bratislava dabei sein, denn die Slowakei gehört selbstverständlich auch zu dem strukturell und kulturell definierbaren Raum namens Zentraleuropa. Seit 2015 sind die politischen Beziehungen dieser Staaten und innerhalb der Visegrád-Gruppe immer mehr durch Konflikte geprägt, um so wichtiger ist es daher, auf wissenschaftlicher Ebene zusammenzuarbeiten.
In meinen langen Kooperationserfahrungen in bilateralen und multilateralen Forschungsprojekten, Konferenzen und Publikationen sind wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen längst über die Phase der nationalen Zuschreibungen und Zuordnungen hinausgekommen. Wir tauschen uns vielmehr über inhaltliche und methodische Fragen und Theorien aus, oft auf Englisch oder Deutsch, aber auch in den Sprachen der Partneruniversitäten, denn "English only" ist für einen vertieften Austausch oft unzureichend. Allerdings hat Österreich bei der Kenntnis der Kulturen und vor allem der Sprachen Ostmitteleuropas, die für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit wichtig sind, einen Nachholbedarf. Nun gilt es diese Partnerschaften mit konkreten Projekten auszubauen. Bei meinem neuen Forschungsinstitut, dem Research Center for the History of Transformations (RECET), betreiben wir bereits mehrere größere bilaterale Projekte, aber selbstverständlich sind Projekte wie diese auch in ganz anderen Fachbereichen als in der Geschichte und den Sozialwissenschaften möglich. Vielleicht kann man diese dann eines Tages auch auf europäischer Ebene ansiedeln.
Hier ist eine Parallele zur Welt des Sports naheliegend: Mitte der 1920er Jahre riefen die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie in Reaktion auf deren Zerfall den Mitropa-Cup ins Leben. Dieser Fußballwettbewerb generierte rekordverdächtige Zuschauerzahlen und war das Vorbild für die UEFA. Es gelang sogar, den Wettbewerb im Kalten Krieg und bis 1992 wieder ins Leben zu rufen, wenngleich er nicht mehr seine alte Bedeutung erlangte und schließlich von den Wettkämpfen der UEFA verdrängt wurde. Doch die Lehre bleibt, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und der Wettbewerb alle nationalen Ligen stärkte. Das Gleiche gilt für die Universitäten, die gemeinsam leichter an ihre frühere Bedeutung anschließen könnten.
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