Stresslevel und Sozialverhalten während der Pandemie
| 03. März 2021Lockdown – was macht er mit uns? Psycholog*innen der Uni Wien rund um Claus Lamm, Giorgia Silani und Urs Nater untersuchten das Stresslevel und Sozialverhalten in Zeiten der sozialen Distanzierung. Nun liegen erste – teils unerwartete – Ergebnisse vor.
uni:view: Herr Prof. Lamm, Sie haben mit Ihrem Team zwei große Studien während des ersten und des zweiten Lockdowns durchgeführt. Starten wir mit der ersten Studie, in der Sie mit der Tagebuch-Methode das Stresslevel der Versuchspersonen während der Lockdowns untersucht haben. Können Sie die Methode und deren Aussagekraft näher erläutern?
Claus Lamm: Der englische Name der Tagebuchmethode ist etwas cooler: Ecological Momentary Assessment, also ökologische Messungen im Alltagsgeschehen. Das ist eine sehr gute Methode, um Stress und Wohlbefinden zu untersuchen, da damit nicht nur ein Mittelwert erfasst wird, sondern das kontinuierliche subjektive Stresserleben und die Stimmungslage. Unsere Versuchspersonen bekamen fünf Mal am Tag eine Abfrage zu ihrem Befinden via Smartphone und das über eine Woche hinweg. Dadurch waren wir sehr nahe am tatsächlichen Erleben und Verhalten der Versuchspersonen. Mitgemacht haben rund 1.200 Leute, wirklich verwerten konnten wir dann die Daten von rund 700 Personen. Sie stammten hauptsächlich aus Österreich, aber auch aus Deutschland, Italien und der Schweiz. Das war also eine relativ große Stichprobe für eine Tagebuchstudie.
uni:view: Nun liegen Ihnen die ersten Auswertungen und Ergebnisse vor: War das Stresslevel der Menschen sehr hoch?
Lamm: Interessanterweise nicht exorbitant hoch, und das hat uns dann doch überrascht. Wir sind mit der Arbeitsthese in die Studie gegangen, dass das Stresslevel hochgehen und die Stimmung am Boden sein wird. Das haben wir aber so nicht beobachtet. Im Mittelwert gab es zwar einen leichten Anstieg von Stress, aber sicher nicht im bedenklichen Ausmaß. Das heißt nicht, dass es nicht Subteile der Bevölkerung gab, die sehr wohl durch die Situation gestresst waren, wie z.B. solche mit psychischen Vorerkrankungen wie Angststörungen. Auch jüngere Versuchspersonen – und das ist ein interessanter Aspekt – haben sich sehr wohl überproportional belastet gefühlt.
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uni:view: Gab es auch weniger belastete Menschen?
Lamm: Ja, zum Beispiel Personen, die generell über mehr finanzielle und wenn man so will auch soziale Ressourcen verfügten. Salopp formuliert: Wer vor den Lockdowns relativ sicher im Sattel gesessen ist, ist auch durch die Krise bzw. den Lockdown relativ wenig belastet worden.
uni:view: Also jüngere Menschen und solche mit psychischen Vorerkrankungen wie Angststörungen aber auch solche mit hohem selbstberichtetem chronischem Stress, waren durch die Situation gestresst. Wie erging es älteren Menschen und jenen mit Kindern?
Lamm: Die älteren Menschen waren im Mittelwert interessanterweise nicht überdurchschnittlich belastet. Allerdings haben wir aufgrund der Abfragemethode mit dem Smartphone nur wenige Menschen der Hochrisikogruppe in der Studie. Das ist sicher eine gewisse methodische Schwäche. Zu den Kindern können wir aus ähnlichen Gründen relativ wenig gesicherte Aussagen treffen.
Ebenso spannend ist das Ergebnis anderer internationaler Forschungsgruppen, die zeigen konnten, dass im Lockdown in manchen Subgruppen die durchschnittliche Herzrate bzw. deren Variabilität gesenkt wurden. Meine Vermutung ist, dass das physiologische und damit auch das psychologische Stressniveau abgesenkt wurde, weil während der Lockdowns viele Alltagsstressoren weggefallen sind – wie etwa rechtzeitig aufstehen, Frühstück machen, Jause herrichten, die Kinder in die Schule bringen, in die Arbeit hetzen, etc. Natürlich gibt es zusätzliche Stressoren, wie die Unsicherheit im Job, die Ausbildung der Kinder, usw. Aber unter dem Strich gleicht sich das tendenziell wieder aus.
Claus Lamm über die hohen Qualitätsstandards beider Corona-Studien: "Wir haben in beiden Studien mit sogenannten Open Science Practices gearbeitet. Das heißt, wir haben sie präregistriert sowie unsere Hypothesen, Annahmen und Methoden bekannt gegeben. Damit erfüllen sie die hohen Standards von Reproduzierbarkeit und Transparenz."
uni:view: Kommen wir zur zweiten Studie: Die Befragung wurde weltweit mit über 65.000 Teilnehmer*innen durchgeführt und Sie haben den österreichischen Beitrag geleitet. Was war die Zielsetzung dieser globalen Umfrage?
Lamm: In dieser standardisierten Befragung ging es vor allem um die sozialen Wahrnehmungen dieser Krise, also auch um die Verbreitung von Verschwörungstheorien, die Zustimmung oder Ablehnung der Maßnahmen und das wiederum kombiniert mit der sozialen Identität einer Person, wie Ausbildung, Einkommen, etc.
uni:view: Das klingt nach einer enormen Datenmenge. Welche Aspekte haben Sie sich bereits angesehen und was sind die ersten Ergebnisse?
Lamm: Ja, diesen Datensatz kann man sicher auf die nächsten Jahre hinaus noch analysieren. Wenn man das, nachdem diese Krise einmal überstanden ist, überhaupt noch möchte (lacht).
Wir konnten in unserer Analyse das Modell bestätigen, dass die Spendenbereitschaft steigt, je älter eine Person im Schnitt ist. Kurz gesagt: Je älter, desto prosozialer. Wir haben dabei den Teilnehmer*innen einen hypothetischen Geldbetrag zur Verfügung gestellt und sie gefragt, wieviel sie davon an wohltätige Organisation, z.B. das Rote Kreuz, zur Bekämpfung der Corona-Pandemie spenden würden. Und wie viel davon dann in ihrem Land verwendet werden soll, um die Pandemie zu bekämpfen, oder für internationale Maßnahmen.
Das Spannende hier war auch, dass der sogenannte Ingroup/Outgroup Bias proportional mit dem Alter gestiegen ist. Das heißt, je älter eine Person, desto mehr wurde hypothetisch im eigenen Land gespendet. Dies war aber basierend auf Kontrollanalysen nicht darauf zurück zu führen, dass die Personen glauben, selber davon mehr zu profitieren. Es scheint ein echter Bias zu sein, der mit höherem Alter zunimmt. Dieses Ergebnis trifft weitgehend auf die gesamte Studie zu, und zeigt sich also global – von Austria bis Australia.
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (td)
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Durchgeführt wird die Studie zum Sozialverhalten in Zeiten der sozialen Distanzierung und danach von einem Team um Claus Lamm (im Bild), Giorgia Silani und Urs Nater von der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Die Projektmitarbeiter*innen sind Anja Feneberg, Paul Forbes, Ekaterina Pronizius, Giulio Piperno und Ana Stijovic. Die Studie wurde durch einen COVID-19 Rapid Response Grant der Universität Wien gefördert. Nähere Informationen (© Lukas Lengersdorff)