Gemeinschaftsprojekt Demokratie

100 Jahre Republik: In der neuen Ausgabe des Alumni-Magazins "univie" geht es um die Frage, was eine Demokratie ausmacht. Siegrun Herzog hat Geschichte(n), Gedanken und Gegebenheiten zum Wesen der Demokratie von WissenschafterInnen und Alumni gesammelt.

"Als ich geboren wurde, hat's den Kaiser noch gegeben", erinnert sich Dorothea Simon. Die bald 100-jährige Alumna teilt mit der Republik Österreich das Geburtsjahr 1918. Damit verbunden ist eine ereignisreiche persönliche Geschichte, Stationen von historischer Dimension inklusive. An die Lebensmittelknappheit und den Hunger im Wien der Nachkriegsjahre kann sich Dora Simon noch gut erinnern: "Es gab wenig zu essen, aber ich habe bei jeder Gelegenheit Kondensmilch geschleckt, die war so gut."

Auch das ausgeprägte Lagerdenken in der noch jungen Republik ist der ehemaligen Sozialarbeiterin nach wie vor präsent: "Man war entweder Sozialdemokrat oder man war christlich-sozial. Und wenn man Sozialdemokrat war und Briefmarken gesammelt hat, dann hat man das im Verein der sozialdemokratischen Briefmarkensammler getan. Demokratie bedeutet ja Toleranz, Minderheitenrechte, Frauenrechte – von all diesen Dingen war in den 1920er Jahren nichts zu bemerken, es war eine sehr unvollkommene Demokratie", so Simon.

Frühe demokratische Welle

Wie sich in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie überhaupt so etwas wie eine Demokratie herausbilden konnte, rekonstruiert Oliver Rathkolb. "Wien war von Hungersnot geplagt, die Spanische Grippe grassierte, es herrschte sozusagen Endzeitstimmung." Man setzte starke Hoffnungen in den demokratischen Prozess, um eine bessere, sozialere und gerechtere Gesellschaft ohne Krieg zu entwickeln, so der Zeithistoriker der Universität Wien.

"Demokratie ist für mich ein transparentes, mit klaren Strukturen versehenes System der Aushandlung gesellschaftlicher Gegenwart und Zukunft. Ich glaube, dass die parlamentarische Demokratie ein gutes Modell ist, jedoch mit einer stärkeren zivilgesellschaftlichen Komponente. Ich bin kein Freund einer permanenten Volksabstimmung über alle Fragen. Es ist aber wichtig, diesen Prozess des Aushandelns – auch von Minderheitenpositionen – stärker zu unterstützen", so Oliver Rathkolb. (© Matthias Cremer)

Erste Schritte zum Aufbau demokratischer Strukturen wurden bereits während der Monarchie gesetzt. Rathkolb nennt sie eine "dünne demokratisch erfahrene Elite", die hier wirkte, darunter Persönlichkeiten wie der Rechtswissenschafter Hans Kelsen – der als Architekt der Grundstruktur der österreichischen Verfassung von 1920 gilt – und Karl Renner, der als Staatskanzler 1918 bis 1920 maßgeblich am Entstehen der Ersten Republik Österreich beteiligt war. Es gelang schließlich eine sehr moderne Verfassung zu entwickeln, mit einem Schwerpunkt auf Parlamentarismus, auch Minderheitenrechte wurden bereits thematisiert. "Insofern ist es eine überraschend kreative Phase, die auf Druck von außen – Angst vor einer kommunistischen Revolution – sehr gut reagiert hat", so Rathkolb.

Ihr Recht geht vom Volk aus

"Die österreichische Verfassung von 1920 gilt, mehrfach novelliert, noch heute. "Unsere Verfassung ist in den Grundzügen exzellent und für die damalige Zeit unglaublich modern. Ich denke, das war auch nur in einer derartigen Umbruchphase möglich, wie wir sie nach dem Ersten Weltkrieg hatten", ist die Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein, neue Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes und Alumna der Universität Wien, überzeugt. "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", lautet Artikel 1. Dazu Bierlein: "Das ist unglaublich klar, in einer knappen Sprache verfasst, wie man sie sich manchmal in heutigen Gesetzen wünschen würde."

Dass sie damals keine Österreicherin, sondern tschechoslowakische Staatsbürgerin war, erfuhr Dora Simon erst in der Schule. Als sie im Jahr 1937 für ein Schuljahr nach Prag kommt, um sich zur Sozialarbeiterin ausbilden zu lassen, lernt die 19-Jährige kennen, was Demokratie sein kann. "Die Tschechoslowakei war für mich damals das einzige wirklich demokratische Land in Mitteleuropa. Ich bin wie aus einem Gefängnis in die Freiheit gekommen. In Österreich war ich regierungskritisch eingestellt, in Prag konnte ich reden, was ich wollte, und konnte glauben, was in den Zeitungen stand. Das war wie ein Befreiungsschlag für mich", erinnert sich Simon an ihre Zeit in der Tschechoslowakei, die bis 1939 ein freiheitlich-demokratischer und sozialer Rechtsstaat war.

"Ich war irgendwie entwurzelt", so Zeitzeugin und Alumna der Universität Wien Dorothea Simon, geboren 1918 in Wien. Staatsbürgerschaft: Österreich. Davor: Tschechoslowakei, USA, staatenlos. Dora Simon erzählt in univie ihre Geschichte. (© Siegrun Herzog)

Aus der Geschichte lernen

Im Österreich der Zwischenkriegszeit findet Oliver Rathkolb auch einige Parallelen zum gegenwärtigen politischen Klima: "Wir beklagen Fake News als neues Phänomen, aber wenn wir uns die Medien der 1920er Jahre ansehen, merken wir, die sind voll von Fake News." Politik wird heute wieder sehr stark durch aggressive emotionale Auseinandersetzungen getragen. "Und da sind wir eigentlich wieder zurück in der Zwischenkriegszeit", gibt der Historiker zu bedenken.

Eine repräsentative Umfrage, die das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien unter der Leitung von Oliver Rathkolb mit dem Meinungsforschungsinstitut SORA 2017 sowie 2007 durchführte, zeigen eine Wechselwirkung zwischen demokratischen Einstellungen und Geschichtsbildern auf – wobei jene Befragten, die ein kritisches Bild über die Entwicklung der Demokratie, aber auch über die Zeit der Diktatur in Österreich haben, eine stärkere Bereitschaft zeigen, sich aktiv in die Demokratie einzubringen. "Wenn ich mir diesen empirischen Befund ansehe, dann spielt Geschichte eine sehr große und wichtige Rolle", resümiert Rathkolb.

Im sogenannten DemokratieQuartier ist das Parlament während der Sanierung untergebracht. Die Folien an den Fassaden der beiden Pavillons auf dem Heldenplatz zeigen Zitate aus Verfassungs- und Gesetzestexten. (© Armin Proschek)

Gelernt hat der Historiker zweifellos auch aus seiner eigenen Geschichte. Aufgewachsen in der Waldviertler Ortschaft Litschau, fuhr der Jugendliche täglich entlang des Eisernen Vorhangs in die Mittelschule. "Ich habe an der Grenze im Wald gespielt, immer in der Angst, dass ich von einem Grenzsoldaten inhaftiert werden könnte." Das habe tiefe Spuren hinterlassen, wie er selbst sagt. Und hat offenbar auch sein Interesse, sich wissenschaftlich mit Demokratie und Diktatur zu beschäftigen, beflügelt.

Und wie ist es um die Demokratie in Österreich bestellt?


Die Politikwissenschafterin und Wahlforscherin der Universität Wien, Sylvia Kritzinger, sieht die Demokratie in Österreich mit ihren Institutionen gefestigt und stabil. Es sei nicht so leicht, eine Institution zu schließen, vor allem wenn sie verfassungsrechtlich verankert ist. "Insofern möchte ich die Unkenrufe ein bisschen hinten anstellen", so Kritzinger.

Aber: Demokratien verändern sich, sie passen sich an Gegebenheiten an. "Solange aber die institutionellen Rahmenbedingen gegeben sind, die so eine Art checks and balances darstellen, sehe ich für die Demokratie, wie sie in Österreich aufgestellt ist, wenig Gefahr." Natürlich müsse man Veränderungen oder Reformen immer unter einem verfassungsrechtlichen, demokratiepolitischen Aspekt beobachten und aufpassen, ob Aushöhlungen passieren, betont die Politikwissenschafterin.

"Demokratie bedeutet für mich die Möglichkeit, sich frei auszudrücken, sich zu beteiligen, die Meinung zu sagen, etwas verändern zu können und letztlich aus der Diskussion und dem Meinungsaustausch einen Kompromiss bzw. eine Lösung zu finden", so Politikwissenschafterin Sylvia Kritzinger. (© privat)

Zukunftsmusik

"Wer mehr Demokratie will, muss in Bildung investieren und nicht in Polizei und Armee", betont Oliver Rathkolb, denn je besser ausgebildet jemand sei, desto geringer auch die Tendenz, autoritäre Entscheidungen mitzutragen. Der Zeithistoriker plädiert außerdem dafür, einen gemeinsamen geschichtspolitischen Diskurs zu führen, der auch die Geschichtsbilder und Erfahrungen zugewanderter Menschen mit anderem kulturellen und historischen Background einbezieht: "Wir brauchen unaufgeregte, rationale Argumente, weg von Vorurteilen, Feindbildern und Verschwörungstheorien, denn das ist schon in der Zwischenkriegszeit total aus dem Ruder gelaufen und hat mit der zweiten Katastrophe des 20. Jahrhunderts – dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust – geendet."

Ein sichtbares Zeichen der Zivilgesellschaft. Zum Lichtermeer für die im Jänner 2018 verstorbene Flüchtlingshelferin Ute Bock kamen Tausende auf den Heldenplatz. (© Christian Michelides/wikimedia commons/CC BY-SA 4.0)

Mit dem Abbau von exzessivem Nationalismus und Vorurteilen in unserer Gesellschaft setzen sich WissenschafterInnen und Studierende an der Uni Wien in einer aktuellen Ringvorlesung auseinander – erklärtes Ziel ist, konkrete Strategien zum Abbau von Vorurteilen und nationalistischen Positionen zu entwickeln. Den Schulen und Universitäten kommt zweifellos eine Schlüsselrolle im Gemeinschaftsprojekt Demokratie zu, hier bilden sich die mündigen BürgerInnen von morgen. (sh)

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Der komplette Artikel findet sich zum Nachlesen in der aktuellen Ausgabe von univie, dem Magazin des Alumniverbandes der Universität Wien. LESEN SIE AUCH: Die Redaktion von uni:view, der Online-Zeitung der Universität Wien, hat wie immer den Bereich "UNIVERSUM" im Alumni-Magazin mitgestaltet.

Veranstaltungstipp: Die erste Alumni Lounge 2018 nimmt das Jubiläumsjahr zum Anlass, um die demokratische Kultur in Österreich einer kritischen Analyse zu unterziehen. Am Podium: Zeithistoriker Oliver Rathkolb, Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger und Alumna und Journalistin Barbara Tóth, die Fragen stellt Corinna Milborn. Am Mittwoch, 21. März 2018, 19 Uhr in der Sky Lounge der Universität Wien am Oskar-Morgenstern-Platz 1. Anmeldung