Kurz gefragt: Wer ist Alice Munro?

Der Literatur-Nobelpreis geht 2013 an Alice Munro. Waldemar Zacharasiewicz vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien kommentiert die Verleihung an die bedeutende kanadische Erzählerin und erläutert den Kontext der Würdigung durch die Schwedische Akademie.

uni:view: Kurz gefragt: Herr Prof. Zacharasiewicz, was sagen Sie als Experte für amerikanische Literatur zur Entscheidung der Nobelpreis-Jury?

Waldemar Zacharasiewicz, vom Institut für Anglistik und Amerikanistik und Leiter des Zentrums für Kanada-Studien der Universität Wien: Mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur hat das Komitee eine kanadische Autorin gewürdigt, die seit über 50 Jahren nicht nur in Nordamerika und in Großbritannien eine große Lesergemeinde gewonnen hat. Ihre souveräne Beherrschung der Form der "Short Story", die in dreizehn Sammelbänden ihren Niederschlag gefunden hat, ist in Kanada bereits durch mehrere Governor General's Awards in der Kategorie Fiction und 2009 durch den hochdotierten internationalen Man Booker Award ausgezeichnet worden.

Ihre subtile Kunst, die aus der genauen Beobachtung der Gesellschaft – vorwiegend im heimatlichen ländlichen oder kleinstädtischen Raum im Südwesten von Ontario, in den sie nach zwei Jahrzehnten an der Westküste zurückgekehrt ist – schöpft, hat viele Bewunderer gefunden. Dies belegen sowohl der häufige Erstabdruck ihrer Erzählungen im angesehenen "New Yorker" als auch die Tatsache, dass mehrere ihrer Sammelbände Bestseller wurden. Von Anfang an hat Munro dabei ihre LeserInnen unter der präzis beobachteten, zum Teil alltäglich anmutenden Oberfläche ihrer "stories" das Mysteriöse und Unergründliche menschlicher Erfahrung und humanen Schicksals spüren lassen. Sie hat diese Einsicht einmal selbst bildhaft als "deep caves paved with kitchen linoleum" beschrieben.

Immer wieder hat die 1931 geborene Autorin, entsprechend zu ihren eigenen Lebenserfahrungen, ihrer frühen Verehelichung, mehrfachen Mutterschaft und verschiedenen Beziehungskrisen und familiären Konflikten, die Gemütslage und Erlebnisqualität von weiblichen Figuren ausgelotet. So hat sie ihren LeserInnen die schmerzlichen Initiationserfahrungen von sensiblen Mädchen vermittelt, aber auch deren individuelles Bewusstsein einer künstlerischen Berufung und des Wunsches, berührende Lebensrätsel in Worte zu fassen (so Del Jordan in "Lives of Girls and Women", 1971, dt. "Kleine Aussichten"). Konflikte zwischen den Generationen und menschliches Scheitern sowie die Erfahrung des Älterwerdens und von Krankheit und traumatischen Erinnerungen wurden in den späteren Sammelbänden zunehmend zur Inspirationsquelle.

Stilistisch virtuos und mit komplexer Erzähltechnik befassen sich ihre Geschichten oft mit der Emanzipation von Frauen von engstirnig-provinziellen Verhaltensmustern, widmen sich der Darstellung von z.T. widersprüchlichen Bestrebungen weiblicher Figuren und den Risiken von neuen Liebesbeziehungen, die nicht selten scheitern. Wiederholt greift die Autorin dabei den Texttyp des Zyklus von Erzählungen auf (in "Lives" und in "Who Do you Think You Are?" 1978), der für die modernistische Erzählprosa in Nordamerika geradezu charakteristisch war. Dies gilt wie für Munro besonders auch für eine Autorin aus dem amerikanischen Süden, die Munro – ebenso wie andere große ErzählerInnen – wichtige künstlerische Anregungen lieferte: die eine Generation ältere Eudora Welty (1909-2001) aus Mississippi.

Munro hat ihren kreativen Dialog mit dieser bedeutenden Erzählerin (vgl. deren Erzählzyklus "The Golden Apples", 1949) selbst erläutert und so aufgezeigt, dass ihre eigene Verwurzelung im regionalen Raum nicht Begrenzung, sondern vertiefte Verankerung ihrer Erzählkunst bedeutet. Dies gilt ebenso für den Literaturnobelpreisträger William Faulkner (1897-1962), der, wie Welty, jüngere kanadische SchriftstellerInnen inspirierte. Ähnliches lässt sich auch bei Munros älterer kanadischer Kollegin Margaret Laurence (1926-1987) beobachten. Bei der Gestaltung ihrer imaginierten fiktionalen Welten – seien sie im Umfeld von Jackson bzw. 'Morgana', MS (Welty), oder von Oxford / Jefferson, MS (Faulkner), oder in Neepawa/Manawaka, Manitoba (Laurence) lokalisiert – ging es ihnen allen trotz der räumlichen Begrenzung um die exemplarische Darstellung von allgemein-menschlichen Schicksalen.

Die Affinität bzw. Wahlverwandtschaft zwischen der neuen Nobelpreisträgerin Munro und der sie inspirierenden Welty hat Pearl Amelia McHaney in dem eben erschienenen Band "Cultural Circulation: Dialogues between Canada and the American South" (hrsg. W. Zacharasiewicz und Christoph Irmscher, 2013), dargestellt; die spirituelle Dimension in Munros scheinbar nüchtern-realistischer Weltsicht hat Charles R. Wilson im selben Band aufgezeigt.

In mehrfacher Hinsicht gibt es Berührungspunkte mit jener anderen außerordentlichen und ebenso Nobelpreis-verdächtigen kanadischen Schriftstellerin, die im Genre des Romans, der sozialkritischen Dystopie und der Dichtung ihr angemessenes Metier gefunden hat und die durch ihre Rolle als kritische Intellektuelle besondere Reichweite erzielt: Margaret Atwood (geboren 1939). Schon 1972 hat diese in einem richtungsweisenden Buch mit dem Titel "Survival" die rasche Entfaltung der eigenständigen kanadischen Literatur kommentiert. Die große erzählerische Energie, die in der außerordentlich vielfältigen literarischen Produktion im anglophonen, aber auch frankophonen Kanada seither manifest wurde und die auch in den vielen kreativen Stimmen von ImmigrantInnen aus anderen Erdteilen hörbar ist, hat mit der Würdigung Munros indirekt ebenfalls die verdiente Anerkennung gefunden.