Wien im Wandel
| 19. November 2018Wie hat sich Wien seit 1990 verändert und welche Folgen hat das für seine BewohnerInnen? Die Soziologen Yuri Kazepov und Roland Verwiebe gehen in ihrem aktuellen FWF-Projekt dem Strukturwandel in der Bundeshauptstadt auf den Grund.
In Wien lebt es sich am besten! Das besagt zumindest eine Studie der internationalen Beratungsagentur Mercer, die unsere Bundeshauptstadt 2018 zum bereits neunten Mal in Folge zur lebenswertesten Metropole der Welt gekürt hat. Doch was bedeutet das überhaupt? Haben es Menschen, die hier leben, leichter einen Job oder eine Wohnung zu finden als anderswo? Und wie hat sich das Leben für sie in den letzten 25 Jahren verändert?
Fragen wie diese stehen im Zentrum des Forschungsprojekts "Strukturwandel in Wien", das sich mit den (Dis-)Kontinuitäten des hiesigen urbanen Wandels auseinandersetzt. "Wien stellt in gewisser Weise das Ideal einer europäischen Stadt dar, das sich durch ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit, politischer Partizipation, Anerkennung von Diversität und ökologischer Nachhaltigkeit auszeichnet. Doch langfristige Veränderungen wie die Finanzkrise und wachsende Migrationsbewegungen zeigen ihre Auswirkungen auch hier. Wir möchten herausfinden, wie diese genau aussehen", erklärt Yuri Kazepov vom Institut für Soziologie sein Forschungsinteresse.
Systematische Analyse
Gemeinsam mit seinem Institutskollegen und Co-Projektleiter Roland Verwiebe wird der Professor für Internationale Stadtforschung in den kommenden vier Jahren eine umfassende systematische Analyse der Entwicklung Wiens seit dem Jahr 1990 erarbeiten. Dabei sollen allgemeine Muster und spezifische Trends des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wandels ebenso beleuchtet werden wie deren Konsequenzen auf die Lebensbedingungen der EinwohnerInnen.
Auf vier inhaltliche Bereiche konzentrieren sich die ForscherInnen besonders: den Wohnungsmarkt, den Arbeitsmarkt, auf Umweltfragen und die Möglichkeit der BürgerInnen, politische Entscheidungen mitzubestimmen. "Wir werden uns verschiedene strukturelle Daten anschauen, um zum Beispiel zu sehen, wie viele Gemeindebauten es gibt, welche Menschen dort wohnen und wer sich Wohnungseigentum leisten kann. Das werden wir sowohl quantitativ anhand von Datensätzen als auch qualitativ durch Fallstudien und Interviews mit BewohnerInnen, PolitikerInnen, BeamtInnen, NGOs und verschiedenen ExpertInnen erfassen", schildert Kazepov.
Wien als "Just City"
Im Zentrum des Interesses stehen folgende Fragen: Ist Wien eine "Just City"* – also eine "gerechte Stadt", in der die Rechte und Pflichten der BürgerInnen im Gleichgewicht sind und allen der gleiche Zugang zu Wohlbefinden offensteht? Gibt es bestimmte Bevölkerungsgruppen, die ausgeschlossen werden? Welche Veränderungen haben in den letzten 25 Jahren stattgefunden? Treffen die sozialen Risiken heute womöglich andere EinwohnerInnen als früher? In welche Richtung geht die Entwicklung?
"Wir vermuten, dass Wien zwar auch heute noch eine Just City ist, dass sich aber der Zugang zu Wohlstand, Ressourcen usw. zunehmend dualisiert hat", formuliert Kazepov eine seiner Grundthesen. Genaueres könne er aber erst nach Projektende sagen. "Man kann das etwa am Wohnungsmarkt sehen", führt der Forscher aus: "Der Zugang zu günstigem Wohnraum wird immer schwieriger. Gleichzeitig gibt es noch alte, sehr günstige Mietverträge. Diese sind für die meisten Menschen aber nicht zugänglich, was zu einer Dualisierung führt und nicht dem Ideal einer Stadt mit möglichst wenig Exklusion entspricht."
* Der Begriff "Just City" wurde durch die US-amerikanische Politikwissenschafterin und Stadtsoziologin Susan Fainstein geprägt, die 2010 unter demselben Titel ein Buch veröffentlicht hat. Darin entwirft die Harvard-Professorin das Konzept einer modernen, "gerechten Stadt", die drei Prinzipien erfüllen sollte: Demokratie, Diversität und Gleichheit. Ziel ist die Schaffung der "bestmöglichen Bedingungen für ein Aufblühen der Menschen". (© Cornell University Press)
Impulse und Denkanstöße
Die wissenschaftlichen Ergebnisse möchten die Soziologen auf alle Fälle mit AkteurInnen der Stadtverwaltung diskutieren. "Unsere Hoffnung ist, dass wir dadurch neue Impulse setzen und Denkanstöße liefern können. Als StadtforscherIn hat man eine gewisse Verantwortung, eine bestimmte Richtung aufzuzeigen. Wenn wir es schaffen, die Wissenschaft mit der Praxis zu verknüpfen, wäre das ein wirklich toller Erfolg", betont Kazepov.
Der in Mailand geborene Deutsche mit bulgarischen Wurzeln verfolgt mit seinem Projekt übrigens noch ein weiteres Ziel: "Mir geht es auch darum, Wien im internationalen Kontext besser vorstellen und einordnen zu können. Wir verfügen im Projekt über ein hochkarätiges Advisory Board mit Mitgliedern aus der ganzen Welt – Amsterdam, Mailand, London, Berlin, New York und Stockholm. Es wird spannend werden zu sehen, ob es in anderen Städten ähnliche Entwicklungen gibt wie in Wien." (ms)
Das FWF-Projekt "Strukturwandel in Wien. (Dis-)Kontinuitäten urbanen Wandels" unter der Leitung von Univ.-Prof. Yuri Albert Kyrill Kazepov, PhD und Univ.-Prof. Dr. Roland Verwiebe vom Institut für Soziologie der Fakultät für Sozialwissenschaften läuft vom 1. April 2018 bis 30. September 2021. Projektmitarbeiter sind Byeongsun Ahn, M.Sc, Mag. Michael Friesenecker und Christophe Verrier, M.Sc B.Sc.