Ist die "illiberale" Demokratie die "echte" Demokratie?

Österreich hat gewählt, und der Blick schweift ostwärts. Docken wir an die Visegrád-Gruppe an? Darüber schreibt Rechtsphilosoph Alexander Somek in seinem Gastbeitrag zur Semesterfrage auf "derStandard.at". In einem Frage-Antwort-Artikel wird er Fragen und Postings von LeserInnen zum Thema aufgreifen und diskutieren.

Bei der Visegrád-Gruppe handelt es sich um einen losen Verband von Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn), zu dem bloß noch Österreich hinzukommen müsste, um so etwas wie die mitteleuropäische Konstellation der Donaumonarchie wiedererstehen zu lassen – selbstverständlich mit Österreich wegen seiner überlegenen Wirtschaftskraft in der Rolle des altbewährten primus inter pares. Zugegeben, die Vorstellung ist seltsam; aber sie ist immerhin patriotisch. Und es gibt patriotisch gesinnte Österreicher wie Andreas Khol, denen die Idee gefällt.

Manche Politiker dürften ihre Freude daran haben, dass es innerhalb der Europäischen Union einen bereits etablierten Kreis von Staaten gibt, die selbstbewusst dem nationalen Interesse Vorrang einräumen und die Hauptzuständigkeiten der Union auf Angelegenheiten wie die gemeinsame Sicherheit und den Grenzschutz beschränken wollen. Sie versprechen sich davon das Ende des zentralistischen Bürokratismus und die Belebung der Subsidiarität in einem Europa der Vaterländer. Die Visegrád-Gruppe enthielte somit die Blaupause für ein anderes, besseres Europa.

UserInnen haben die Gelegenheit, auf "derStandard.at" Fragen und Postings an den Wissenschafter zu richten. Alexander Somek wird die Kommentare aufgreifen und im Forum und in einem weiteren Frage-Antwort-Artikel am 7. Dezember auf "derStandard.at" aufgreifen und diskutieren.

Politische Gretchenfrage

Aus der Visegrád-Gruppe, namentlich aus dem von Viktor Orbán geführten Ungarn, stammt aber auch eine Neubestimmung des demokratischen Gemeinwesens im Sinn einer "illiberalen" Demokratie. Weg mit den verfassungsrechtlichen Schranken: Vox populi suprema lex. In Polen atmet die Staatspraxis einen ähnlichen Geist.

Wie wollen wir Österreicher es denn damit halten? Würden wir uns mit Ländern gemein machen wollen, die diese Idee auf ihre Fahnen geschrieben haben? Würden wir sie gar selbst attraktiv finden? Würde sie die Forderung nach mehr direkter Demokratie auf eine neue Grundlage stellen?

Der Vordenker

Die Demokratie aus den bürgerlichen Fesseln des Liberalismus zu befreien war schon das Anliegen des berühmt-berüchtigten deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt.

Grundrechte, Gewaltenteilung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Zentralbanken – das sei doch Liberalismus und nicht Demokratie. Sogar der Parlamentarismus erweise sich bei genauerer Betrachtung als etwas Liberales, denn es gehe ums endlose Reden, die Rationalität, das Für und Wider, an dessen Ende der inhaltsleere Formenkompromiss stehe.

Demgegenüber sei die "echte" Demokratie manifest an der Masse, deren Angehörige sich als Gleiche verstehen. Sie gehören zusammen, weil sie von derselben Art sind, zum Beispiel weiß, deutsch und christlich. Unter ihnen findet sich nichts "Andersartiges". Die Gleichen artikulieren sich als Masse durch Jubel oder spontane Unmutskundgebungen. Bewegt werden sie von charismatischen Führern, wie Mussolini einer war, in denen sich der Volkswille artikuliert.

Die illiberale Demokratie ist die Demokratie, die ihre Einheit aus der Liebe zu ihrem Führer gewinnt. Ja, es geht um Liebe, denn diese Demokratie entfesselt libidinöse Energien. Das macht sie sexy, selbst wenn ihre Führer äußerlich nicht zum "Feschisten" taugen. Und weil sie sexy – sprechen wir es aus: männlich – ist, finden sie einige auch richtig geil.

Der kollektive Leviathan wird von der Bindung an die Menschenrechte und der Kontrolle durch Gerichte befreit. Den Angehörigen der breiten Masse wird das verschafft, was alle "Populisten" ihnen versprechen, nämlich ein Sieg, und zwar der Sieg der bloßen Zahl – der Mehrheit – über die Norm. Es geht um die Macht der vielen, in der sich nicht zuletzt die Vormacht des Kollektivs vor den Mühen der rationalen Argumentation ausdrückt. Beschränkungen, die von der Rechtsprechung, von xenophilen Moralisten oder – um Gottes willen! – von Sozialisten ausgeheckt worden sind, können über den Haufen geworfen werden.

Dies zu vermögen, daran erkennen die illiberalen Demokraten das, was sie für die "echte", uneingeschränkte Demokratie halten. Ist das nicht geil?

Die Tyrannei der Mehrheit

Aber die illiberale Demokratie ist eine falsche Demokratie. Und eine falsche Demokratie ist gar keine.

In der Antike hätte man das, was Orbán und seinen polnischen Kollegen vorschwebt, als Vorstufe zur Tyrannis betrachtet. In genau diesem Sinne warnten James Madison und Alexis de Tocqueville in der Moderne vor der "Tyrannei der Mehrheit".

Dass es sich um Tyrannei handelt, ergibt sich aus einer einfachen Überlegung. Das elementarste Prinzip der Demokratie ist die Gleichheit. Niemand gilt als besser oder einsichtiger als die anderen. Deswegen haben die Stimmen aller Stimmberechtigten das gleiche Gewicht. Weil die Forderung nach Einstimmigkeit den Verband lähmen würde, wird er handlungsfähig aufgrund des Mehrheitsprinzips.

Das gleiche Gewicht der Stimmen und das Mehrheitsprinzip hängen zusammen. Denn wenn wir die Minderheit obsiegen ließen, würden wir ihren Stimmen größeres Gewicht beimessen als den Stimmen der Mehrheit. Die Stimmen würden nicht gleich gelten. Rechtfertigen ließe sich dies nur unter der Voraussetzung, dass die Angehörigen der Minderheit aus irgendeinem Grund besser wären oder über höhere Einsicht verfügten. Wenn aber alle Stimmen gleich sind, da niemand beanspruchen darf, besser zu wissen oder besser zu sein als die anderen, dann kann eben nur gelten, was die Mehrheit entscheidet. Wo nicht gewogen werden kann, muss gezählt werden.

Illiberale Demokraten würden diese Überlegung noch akzeptieren. Aber sie verweigern es, die Schlussfolgerung daraus zu ziehen. Wenn nämlich die Mehrheitsentscheidung ein Ausfluss der Gleichheit aller Stimmberechtigten ist, dann dürfen Mehrheitsentscheidungen nicht das Prinzip verletzen, auf dem sie beruhen. Die Gleichheit ist die Grundlage und die erste verfassungsrechtliche Schranke der Demokratie. Diskriminierungen sind undemokratisch. Vom aus der Gleichheit folgenden Diskriminierungsverbot ist es nur ein kleiner gedanklicher Schritt zu den Freiheitsrechten. Sie stehen für jene Güter, über die alle gleichermaßen verfügen können sollen, was immer sie mit diesen Gütern auch anfangen wollen.

Daher sind die mit den Grundrechten gezogenen Schranken der Demokratie der Demokratie inhärent. Sie treten nicht äußerlich zu ihr hinzu. Ihrem Schutz dienen weitere Prinzipien wie die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit.

Träumereien von Groß-Österreich


Die illiberale Demokratie will die Mehrheit im Recht sehen, auch wenn sie diskriminiert, ausgrenzt und die Rechtsstaatlichkeit aushöhlt. Sie ist daher ein anderer Name für die Tyrannei der Mehrheit. Sie ist keine Demokratie. Darauf sollten wir nicht vergessen, bevor wir uns auf das Abenteuer einlassen, als Mitglied der Visegrád-Gruppe von der bedeutenden Rolle Groß-Österreichs im Europa der Nationen zu träumen. Oder wollen wir unsere Ideale leichtfertig aufs Spiel setzen? 

Alexander Somek ist Professor für Rechtsphilosophie und Methodenlehre der Rechtswissenschaften an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind: das Rechtsverhältnis, nachpositivistische Rechtstheorie, Rekonstruktion politischer Grundbegriffe, Transformationen des Konstitutionalismus.