Mehr Demokratie oder mehr Demagogie?
| 30. Oktober 2017Die drittstärkste Partei im Nationalrat erklärt mehr direkte Demokratie zur Koalitionsbedingung. "Wer darauf eingeht, stärkt nicht die Demokratie", so der Historiker der Universität Wien Thomas Angerer in seinem Gastbeitrag zur Semesterfrage.
Die drittstärkste Partei im Nationalrat fordert mehr direkte Demokratie, insbesondere die Möglichkeit zur Volksgesetzgebung, zu Vetoreferenden, Volksbefragungen als Minderheitenrecht und verpflichtende Volksabstimmungen nach erfolgreichen Volksbegehren. In die gleiche Richtung, wenn auch weniger weit, geht das Wahlprogramm der stärksten Partei.
Tatsächlich zeigen kantonale Vergleichsstudien der Schweiz, dass häufigere Volksabstimmungen BürgerInnen politisch zufriedener machen und den Staat effizienter. Das sind gewichtige Argumente. Außerdem entkräftet das Schweizer Beispiel zumindest teilweise zwei Gegenargumente: die Gefahren einer demokratischen Selbstausschaltung und einer "Diktatur der Mehrheit" über strukturelle Minderheiten.
Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Wintersemester 2017/18 lautet "Was ist uns Demokratie wert?". Zur Semesterfrage
Solange Rechtsstaatlichkeit, Meinungs-, Medien- und Oppositionsfreiheit nicht schon zuvor beseitigt wurden, wie kürzlich vor dem Verfassungsreferendum in der Türkei, findet sich schwer eine Mehrheit für die Beseitigung der Demokratie. Und traditionelle Minderheiten müssen Volksabstimmungen zumindest in der Schweiz nicht fürchten. Ob sie es auch in Österreich nicht müssten, bleibt dahingestellt: Hier dominiert die deutsche Sprachgruppe ja unvergleichlich stärker als in der Schweiz und Landesregierungen konnten schon ungestraft Minderheitenrechte verletzen, selbst wenn sie vom Verfassungsgerichtshof eingemahnt wurden.
Lehrreiches Schweizer Beispiel
Lehrreich ist das Schweizer Beispiel für den Schutz neuer Minderheiten: In Einwanderungs- und Asylfragen finden sich Mehrheiten für Diskriminierung und Integrationshürden leichter in Volksabstimmungen als im Parlament. Das gehört auch zu dem, was die besagte Partei sich und den WählerInnen von mehr Direktdemokratie verspricht.
Freilich zeigt sich schon hier, dass mehr Direktdemokratie nicht unbedingt mehr Demokratie bringt.
Zur modernen Demokratie gehört von je her mehr als politische Mitbestimmung: Das eine ist ein umfassender Grundrechtsschutz, also die Sicherung von Menschen- und Bürgerrechten (einschließlich des Asylrechts). Wobei die Europäische Konvention für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Grundrechtsschutz auch auf europäischer Ebene absichert – eine der demokratiepolitischen Hauptleistungen der Europäischen Integration.
Gibt es nicht zu denken, wenn dieselbe Partei vorschlägt, die Europäische Konvention für Menschenrechte durch eine österreichische Konvention zu ersetzen, die weniger weit geht und die man nur mehr in Wien würde einklagen können, nicht aber in Straßburg? Schon über 250-mal hat der Straßburger Gerichtshof österreichische Konventionsverletzungen festgestellt und Korrekturen erzwungen.
Was ist uns Demokratie wert?
"Demokratie sichert Menschen- und Bürgerrechte bei weitem besser als jede andere politische Ordnung. Deshalb verdient sie unsere Wertschätzung, unser Engagement und unsere Wachsamkeit! Auch im eigenen Haus. Was ist uns Demokratie in der Universität Wien wert?
Im Mittelalter kam der Grundsatz auf: "Was alle betrifft, ist von allen zu billigen." In vielfältiger Form galt das nicht nur in Universitäten, sondern auch in anderen Gemeinwesen. In abgeschwächter Form sogar in Monarchien, und zwar noch weit bis in die Frühe Neuzeit: Selbst wenn er es formell nicht muss, hört der Monarch die Großen, bevor er entscheidet. Hört er sie nicht oder übergeht er sie, gilt er bald als Tyrann – ein Makel, der den Monarchen entlegitimiert, ihn mitunter sogar sein Amt, wenn nicht sein Leben kostet. Natürlich galt das auch für die Monarchin.
Gilt es auch für monokratische AmtsträgerInnen unserer Tage? Könnten wir an der Universität womöglich nicht nur von modernen Demokratien, sondern auch von alteuropäischen Gemeinwesen lernen, ja sogar von traditionellen Monarchien? Im demokratischen Zeitalter leben jedenfalls auch und gerade Meritokratien von der Quintessenz der Gleichberechtigung, einem Kernprinzip der Demokratie: Kollegialität, Respekt auf Augenhöhe. Sind sie uns an der Universität genug wert?", so der Historiker Thomas Angerer zur Semesterfrage.
Demokratisierung durch Inklusion
Nun garantiert selbst ein umfassender Grundrechtsschutz noch nicht, dass mehr politische Partizipation auch mehr Demokratie bringt. Zur modernen Demokratie gehört außerdem die Demokratisierung der Gesellschaft: die Öffnung sozialer Schranken, Chancengleichheit. Die Politikwissenschaft spricht auch von "Inklusion". Schon Alexis de Tocqueville, der französische Analytiker der Vereinigten Staaten von Amerika im frühen 19. Jahrhundert, sah in der "Angleichung der Lebensverhältnisse" das hervorstechendste Merkmal demokratischer Gesellschaften.
Wie demokratisch Forderungen nach mehr direkter Demokratie sind, lässt sich also gut daran messen, welche Haltung in Grundrechts- und Inklusionsfragen dahinter steht. So gehört es wegen seiner typischen Eliten- und Fremdenfeindlichkeit von je her zu den Paradoxa des Populismus, dass er das Volk in die Politik direkter einbeziehen will, um Unliebsame leichter vom Volk auszuschließen: vom Wahlvolk, von der Gesellschaft – und von der Macht.
Andere Spielregeln gewünscht
Wenn populistische Parteien, erst recht etablierte, mehr direkte Demokratie fordern, dann steckt dahinter nämlich nicht nur eliten- und fremdenfeindliche Ideologie sondern auch Machtpolitik. Populistische Parteien kommen ja meist schwerer an die Macht als andere Parteien und können sich, wenn sie es schaffen, dort nur schwerer halten, wenn sie nicht die Gewaltenteilung und die Grundrechte aushöhlen, wie etwa in Polen und Ungarn. Was aber wünschen SpielerInnen, die sich mit den Spielregeln schwer tun? Andere Spielregeln!
Deshalb wünschen sich PopulistInnen von je her mehr Direktdemokratie. Es geht ihnen nicht um mehr Demokratie, sondern um eine andere, um eine populistischere Demokratie.
Im bewussten Gegensatz zur antiken Demokratie, wo direktdemokratische Elemente dominierten, wurde die moderne Demokratie freilich als Repräsentativdemokratie konzipiert. Und zwar nicht nur, weil Direktdemokratie in Staaten, die wesentlich größer sind als die antiken Stadtstaaten, unmöglich schien. Sondern auch, weil die Gründungsväter der modernen Demokratien Ende des 18. Jahrhunderts ihren Aristoteles gelesen hatten und die Direktdemokratie als zu anfällig für Demagogie sahen.
Hat das Volk immer recht?
Ein gutes Beispiel für Demagogie ist der Spruch: "Das Volk hat immer Recht". Natürlich ist Irren auch in der Wahlzelle menschlich, nicht bloß im Parlament. Nur lassen sich Volksentscheide sehr viel schwerer korrigieren als Parlamentsbeschlüsse. Viele BritInnen wissen gerade ein Lied davon zu singen.
Was bringen Volksbefragungen, Volksabstimmungen, Vetoreferenden? Ja-Nein-Fragen. Also keinen Spielraum für Kompromisse, wie sie oft sachgerechter sind, doch auch schwieriger zu erklären und zu akzeptieren. Für Kompromisse braucht es daher unaufgeregte Beratung, Verhandlungen dazu befugter und qualifizierter VertreterInnen – eben gewählte, doch freie Mandatare, wie sie die repräsentative Demokratie vorsieht.
Hinter Forderungen nach mehr Direktdemokratie steht hingegen oft Kompromissfeindlichkeit – selbst dann, wenn Kompromisse, die im Parlament ausgehandelt wurden, dem Volk zur Abstimmung vorliegen, wie das in der Schweiz regelmäßig geschieht.
Und was bringen Volksbefragungen, Volksabstimmungen, Vetoreferenden, noch bevor sie stattfinden? Abstimmungskampagnen! Kampagnen, auf die sich populistische Parteien besser verstehen als auf normale Parlaments- oder gar Regierungsarbeit; und besser als jene Parteien, die auf weniger Populismus setzen.
Unverhältnismäßiger Druck
Mit Abstimmungskampagnen – ja schon deren bloßer Androhung! – können populistische Parteien daher einen Druck aufbauen, der in keinem Verhältnis zu ihrer Stärke im Repräsentativsystem steht: einen überproportionalen Druck auf das Parlament, wenn sie allein regieren, einen überproportionalen Druck auf Regierungspartner, wenn sie in einer Regierungskoalition, und einen überproportionalen Druck auf die Regierung, wenn sie in der Opposition sind. Womit – und das ist entscheidend – das Risiko steigt, dass der Populismus auf Dauer dominiert, nicht nur vor Parlamentswahlen oder wenn solche gerade gut für ihn ausgegangen sind.
Auch dafür liefert die Schweiz ein trauriges Beispiel. Obwohl die direktdemokratischen Instrumente dort schon recht ausgereift sind und die Behörden vor Volksabstimmungen ziemlich ausgewogen informieren, treibt ein populistischer Industrie- und Medienmogul Regierungen, Parlament und Bevölkerung seit einem Vierteljahrhundert vor sich her.
Geld und Manipulation
Womit einen weiteres Problem ins Auge fällt: Wie bei Wahlkämpfen kommt es auch bei Volksabstimmungen nicht zuletzt darauf an, wie viel Geld jede Seite einsetzt. Selbst wenn es manchmal schiefgeht: In der Regel berechnen Schweizer Verbände mit beträchtlicher Routine, wie viel sie in Kampagnen investieren müssen, damit die Abstimmung "richtig" ausgeht. Abstimmungskampagnen eröffnen finanzkräftigen Privatinteressen in der Regel noch bessere Einflussmöglichkeiten als allgemeine Wahlkämpfe.
Gar nicht zu reden von den Möglichkeiten zur Manipulation von außen, wie sie bei den US-Präsidentschaftswahlen aufflogen. Die Manipulationsmöglichkeiten und die Fragmentierung der Öffentlichkeit durch die sozialen Medien haben die Hoffnung auf neue direktdemokratische Möglichkeiten durch "elektronische Demokratie" wohl bis auf weiteres zerstört.
Thomas Angerer ist Assistenzprofessor am Institut für Geschichte. Seine Schwerpunkte sind die Politik- und Kulturgeschichte Frankreichs und Österreichs, die Geschichte der internationalen Beziehungen und der Europäischen Integration. Zusammen mit Birgitta Bader-Zaar und Margarete Grandner betreut er die Gerald Stourzh-Vorlesungen zur Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie.
Dieser Beitrag erschien geringfügig gekürzt als Gastkommentar in der Print-Ausgabe der Tageszeitung "Die Presse" vom 21. September 2017 sowie auf diepresse.com.