"Platzhirsche und National Champions gefährden die Demokratie"

"Money makes the world go round" sang Liza Minelli bereits 1972 im Film "Cabaret". Doch wie wichtig sind Finanzmärkte für die Demokratie? uni:view sprach im Rahmen der Semesterfrage mit Wirtschaftswissenschafter Thomas Gehrig über Krisen und die unglückliche Verkettung von Banken und Staat.

uni:view: Herr Gehrig, wie demokratisch sind unsere Finanzmärkte?
Thomas Gehrig:
Grundsätzlich ist die Marktwirtschaft eine der liberalsten Wirtschaftsformen. In einem liquiden Kapitalmarkt kann jede und jeder partizipieren. Märkte sind demnach sehr demokratische Institutionen, weil sie die Teilnahme aller maximieren. Ein mögliches Problem ist aber etwa das Prinzip "one share, one vote" ("eine Aktie, eine Stimme", Anm. d. Red.). Auf den ersten Blick klingt das demokratisch, aber wenn alle Aktien nur bei Großaktionären liegen, haben diese auf Grund ihrer Finanzkraft massive Einflussmöglichkeiten. Das wird häufig als illegitim angeprangert.

uni:view: Ist der Kapitalismus also nicht die Wurzel allen Übels?
Gehrig:
Kapitalismus als Spiel, als Rennen um Monopolmacht, ist sicherlich bedenklich, aber eine soziale Marktwirtschaft, die versucht, den Markt für Wettbewerb offen zu halten, kann viel erreichen. In der Sprache Walter Euckens ist Wettbewerb und somit auch eine freie Marktwirtschaft das beste Entmachtungsinstrument. Dagegen hat Kapitalismus in der Form einer stark konzentrierten Industriestruktur mit der Wahlfreiheit in freien Märkten nicht mehr viel zu tun, sondern erstarrt in einer Monopol- oder Kartellgesellschaft, die selbst Macht zementiert und daher extrem undemokratisch ist. Monopolisierungstendenzen sind ständige Herausforderungen für eine Marktwirtschaft.

Im Nachkriegsdeutschland gibt es daher eine Wettbewerbsbehörde, die sicher stellen soll, dass Wettbewerb funktioniert. Doch selbst wenn die Behörde beispielsweise gewisse Zusammenschlüsse großer Unternehmen verbietet, existiert immer noch das Instrument der Ministererlaubnis, wodurch die Politik Einfluss nehmen kann. Leider wird dieses Instrument mit großer Regelmäßigkeit immer wieder zu Gunsten der Industrie ausgeübt. In den meisten Fällen sehen wir, dass die Politik dem Argument eines "National Champions" gegenüber sehr aufgeschlossen agiert und diese auch regelmäßig schützt. Echte "Champions" dagegen benötigen keinen politischen Schutz, sondern bewähren sich im ständigen Wettbewerb auf dem Markt.

uni:view: Befinden wir uns aktuell in einer Finanzkrise?
Gehrig:
Diese Wahrnehmung ist nach der Krise 2007/8 nicht unberechtigt, aber sie wird auch politisch stark aufgebauscht. Die zentralen Probleme der Banken mit notleidenden Krediten in einigen Ländern und Unterkapitalisierung insbesondere der größeren Banken werden politisch (also aus Sicht der Aufsicht) genauso wenig angegangen wie der Abbau der Staatsschulden.

Vor der Krise haben Banken lange Zeit gut funktioniert, der Staat musste wenig eingreifen und die Banken hatten an solchen Interventionen auch gar kein Interesse. Das Geschäftsmodell einer Bank besteht ja nicht zwangsläufig darin, Staatssubventionen abzugreifen. Dass Staaten allerdings zunehmend systematisch Banken retten und stabilisieren, sind Konsequenzen der Krise. Hier muss man die Fragen stellen: Wie konnte es dazu kommen und wie geht es weiter?

uni:view: Was können wir hierzu aus der Geschichte lernen?
Gehrig:
Die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise sind extrem wertvoll, man muss nur Empathie für die Geschichte entwickeln. Die Funktionsträger und Experten, die die Entscheidungen in der Weltwirtschaftskrise getroffen haben, waren ja nicht dumm, sondern versuchten nach Stand der Wissenschaft verantwortungsvolle Lösungen zu implementieren. Heute wissen wir, dass sie falsch lagen. Die ökonomischen Mechanismen, die trade-offs (Austauschbeziehungen, Anm. d. Red.) und die Gefahren sind heutzutage nahezu identisch. Daher müssen wir aus der Geschichte lernen und uns bewusst sein, dass das, was früher passiert ist, immer wieder passieren kann. Das gilt übrigens für die Finanzkrise ebenso wie für die politischen Prozesse.

uni:view: Was ist problematisch daran, wenn Staaten Banken retten?
Gehrig:
Es entsteht eine unglückliche Verkettung von Interessen. Der Staat gibt etwa im Rahmen von Eigenkapitalregeln und Steuervergünstigungen für Schuldzinsen den Banken zunehmend Anreize, Staatsschulden aufzukaufen. Die Banken geben weniger riskante Kredite an Industrie und Wirtschaft, sondern verleihen immer mehr an den Staat. Je mehr Staatspapiere die Banken kaufen, desto billiger kann sich wiederum der Staat verschulden und desto mehr Interesse hat er daran, instabile Banken zu retten. Da wäscht eine Hand die andere. Die eigentliche Aufgabe von Banken ist jedoch nicht, Staats-, sondern Industriefinanzierung. Hier hat sich in Europa etwas massiv verschoben. Das ist kein gutes Zeichen für die Gesundheit des Bankensektors und letztlich für die Marktwirtschaft.

uni:view: Was müsste getan werden, damit es anders läuft?
Gehrig:
Es muss eine klare Trennung zwischen den Aufgaben der Politik und dem Geschäftsmodell der Banken geben. Instabile Banken dürfen nicht gerettet, sondern müssen reorganisiert werden. Ist eine Bank insolvent, dann müsste sie aufgelöst und von einer anderen Bank übernommen werden, wobei die guten Anlagen übernommen und die schlechten ausgegliedert werden sollten. Letztendlich sollte der Markt entscheiden, welche Bank überlebt und welche nicht. Das Spekulieren auf die Staatsgarantie muss ein Ende haben, wir müssen zurück zu mehr Marktwirtschaft.

uni:view: Wieso passiert das nicht?
Gehrig:
PolitikerInnen, die sich v.a. um ihre Wiederwahl sorgen, haben tendenziell ein geringes Interesse, teure Probleme während ihrer Amtszeit zu lösen. Lieber nutzen sie das Budget zur Finanzierung von Annehmlichkeiten und spielen daher auf Zeit. Die Rettung einer großen Firma oder Bank ist dabei durchaus als Steuergeschenk zu verstehen, welches geeignet ist, die Chancen einer Wiederwahl zu erhöhen. Das führt dazu, dass in Europa bei Banken nicht richtig aufgeräumt wird und stattdessen eher "National Champions" geschaffen werden, die auf implizite Staatsgarantien vertrauen dürfen. Sämtliche solche Absprachen und Regelungen, die machtpolitisch zwar verständlich sind, sind letztendlich aber undemokratisch und verschwenden volkswirtschaftliche Ressourcen. Ein Kartellgesetz hat die Aufgabe, den Markt offen zu halten. Ein solches fehlt in der Politik. Eine Begrenzung der Amtszeiten politischer Führungspersönlichkeiten wäre schon ein erster Schritt in Richtung mehr Demokratie und Erhöhung der gesellschaftlichen Beteiligung.

uni:view: Wie wichtig ist ein gemeinsames Europa für den Finanzmarkt?
Gehrig:
Sehr wichtig. Die niederländische Großbank ING beispielsweise hat eine Bilanzsumme, die 1,6-mal höher ist als das Bruttosozialprodukt des gesamten Landes. Hat diese Bank nun ein Problem, dann haben auch die Niederlande eines, wenn sie die Bank retten wollen. Europaweit betrachtet, macht die Bilanzsumme von ING lediglich fünf Prozent des Bruttosozialprodukts des Euroraums aus. Hier könnte eine Schieflage leicht gemanagt und die Bank gegebenenfalls restrukturiert werden. Doch dafür müssten alle Länder bereit sein, die Idee Ihrer "National Champions" aufzugeben. Die Europäische Bankenunion bietet eine einmalige Chance, sie könnte den Markt entnationalisieren und die Politik zurückdrängen. Wenn die Bankenunion ernst genommen wird, wäre sie auch ein Schlüssel zu einem demokratischeren Europa.

Die Bankenunion wurde als Reaktion auf die Finanzkrise geschaffen und besteht derzeit aus zwei Teilen, dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) und dem Einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRM). Der SSM überwacht die größten und wichtigsten Banken im Euro-Währungsgebiet unmittelbar auf europäischer Ebene, während es Aufgabe des SRM ist, ausfallende Banken in geordneter Weise und mit minimalen Kosten für die SteuerzahlerInnen und die Realwirtschaft abzuwickeln. Weitere Informationen

uni:view: Passend zu unserer Semesterfrage: Was ist Ihnen denn Demokratie wert?
Gehrig:
Ich bin überzeugter Demokrat und halte die Demokratie für die beste Gesellschaftsform. Sie ist Geschenk und Verpflichtung zugleich. Sie ist kein Selbstläufer, sondern muss ständig gegen Bedrohungen verteidigt werden. Sowie die Wirtschaft ständig von innen heraus durch Monopolisierungsversuchen und Abschottung gegen Wettbewerb gefährdet ist, droht die Demokratie zu verkrusten durch Diskussionsverweigerung und scheinbar alternativlose Amtskarrieren innerhalb der politischen Parteien. Dagegen zu wirken ist die große Verantwortung. Das Geschenk der Demokratie funktioniert nur, wenn man die Verpflichtung zur Teilhabe auch annimmt.


uni:view: Was können wir tun, um Demokratie zu verteidigen?

Gehrig
: Erstens ist es wichtig, Bewusstsein zu schaffen. Das sehe ich auch als eine meiner Aufgaben als Wissenschafter, etwa im Bereich der Finanzmärkte über Missstände aufzuklären. Der zweite Punkt ist Partizipation. Mehr Aktivismus, mehr Teilhabe. Platzhirsche, die die Teilhabe blockieren, sind gefährlich. Gerade im politischen Prozess dominieren Parteienkartelle, die versuchen, den Markt abzustecken und zu organisieren und somit Teilhabe und Diskussionsplattformen zu reduzieren. Demokratie ist mehr als ein einfaches Rechenexempel von Mehrheiten. In Europa ist das Verständnis für das, was lebendige Demokratie ausmacht, etwas abhandengekommen. "Ewige" KanzlerInnenschaften und Parteiführerschaften gefährden die Teilhabe. In der Polis in Athen gab es z.B. keine dauerhaften Ämter, sondern Rotation, die Innovation geschaffen hat. Der beste Schutz für die Demokratie ist Partizipation, die Öffnung von Diskussionsforen und das Schaffen von Bewusstsein.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)

Thomas Gehrig ist Professor für Finanzwirtschaft am Institut für Finanzwirtschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Informationsacquisition und Liquidität, Marktmikrostruktur, Finanzintermediäre sowie Systemische Risiken und Finanzmarktarchitektur.